re*vision von Leyla Ercan zu Joseph Vernet: Vornehme Türken beim Fischfang zuschauend*, 1755
Wer betrachtet hier wen? Wer ist das Objekt der Anschauung? Wessen Blick bestimmt, ja beherrscht die Ästhetik, Komposition, Symbolsprache des Bildes? Wie würde ein »vornehmer Türke« sich selbst betrachten und darstellen? Wie würde er zurückblicken, auf den Maler? Wie befreit sich der Türke von eurozentrischen Phantasien und wird zum Subjekt des eigenen Diskurses?
Ob er je dort gewesen ist? Ich sichte seine Biographie, fast obsessiv, nach Berührungspunkten mit dem Osmanischen Reich. Mit 20 ging Claude Joseph Vernet nach Italien, wo er Malerei studierte. Im Auftrag des Königs Ludwig XV. malte er Ansichten von Frankreichs bedeutendsten Militär- und Handelshäfen, um der Seemacht der Grande Nation ein Denkmal zu setzen. Hatte es Vernet bei seinen Hafenbesuchen auch ins Osmanische Reich verschlagen? Tatsächlich gibt es aus der gleichen Zeit, um 1755, eine weitere Malerei mit dem Titel „Orientalischer Seehafen bei Sonnenaufgang“.
Doch warum ist es mir so wichtig herauszufinden, ob Vernet dort war?
Macht es einen Unterschied, ob die Gemälde das Ergebnis realer Kontakte und Erfahrungen sind? Oder seiner Imagination entspringen, Anmutungen der eurozentrischen Orientphantasien seiner Zeit sind?
Es sind keine realen Orte, keine realen Begegnungen – das zeigen die eklektischen Motivgefüge im zweiten Bild, in dem die Festung und Brunnen am Seehafen eher neapolitanisch denn türkisch anmuten. Die in vornehme Gewänder gekleideten Türken am Ufer sind ebenfalls Phantasiefiguren: beeindruckend, anmutig, angsteinflößend, mit Pfeilen in der Hand, scharfen Gesichtszügen und einer körperlichen Größe, die alle anderen Figuren klein erscheinen lassen.
Das Bild schreibt sich ein in eine jahrhundertelange Geschichte der Ambivalenz gegenüber „Türken“, die bis heute anhält. Das seit dem 16. Jhd. bestehende Französisch-Osmanische Bündnis führte unter König Ludwig XV., getrieben durch nationale und koloniale Interessen, zu vielschichtigen Verstrickungen beider Reiche. Nach der Niederschlagung der zweiten Wiener Türkenbelagerung 1683 folgte ein Stimmungswechsel in Europa. „Türkengefahr“ und „Türkenangst“ wandelten sich allmählich zum „Türkenspott“ und ab dem 19. Jhd. zu den „Turquerien“: den Exotisierungen und Phantasien von allem Türkischen.
Diese Obsession mit den „Türken“: der europäische, weiße Blick auf „den Türken“, die stereotypen Projektionen und Phantasien von Kulturen des Nahen/Mittleren Osten und deren „Veranderung“ (Othering) und Konstruktion als „anders als Europa“ wurden mit positiv konnotierten Bildern der europäischen Kultur kontrastiert. Abwertende Türkenbilder dienten der Selbstaufwertung und -vergewisserung der abendländisch-christlichen Identität. Kontinuitäten dieses Blicks, einseitige Narrative über „die Türken“ und rassifizierende Darstellungen zeigen sich hartnäckig bis in die heutige Gegenwart, in politischen, kulturellen, öffentlichen Diskursen.
Leyla Ercan
Leyla Ercan (M.A. Anglistik/Amerikanistik, Germanistik, Sozialpsychologie) arbeitet freiberuflich als Kulturmanagerin und -beraterin, Referentin und Lehrbeauftragte zu Diversität, Inklusion und Teilhabe – mit einem besonderen Fokus auf diversitätsorientierte, intersektional-diskriminierungskritische Organisationsentwicklung in Kultureinrichtungen und Kritischen Kulturellen Praktiken in Kunst und Kultur. Sie bietet regelmäßig Empowermentangebote für Women of Colour und Geflüchtete an.
Statement von Leyla Ercan zu Joseph Vernet: Vornehme Türken beim Fischfang zuschauend, 1755 gefördert im Programm »Weiterkommen!« vom Zentrum für Kulturelle Teilhabe Baden-Württemberg.