Dr. Leonie Beiersdorf, 27. Januar 2024

Zum 27. Januar

„Es geht nicht um Erinnerung, es geht um das Bewusstsein einer Gefährdung, von der man weiß, seit man von ihr weiß. Seit man weiß, dass es eine Illusion war, zu meinen, der Zivilisationsprozess sei unumkehrbar, von der man also weiß, dass sie immer aktuell bleiben wird.“

J. P. Reemtsma, 2004

Geknittert, mit billigem Klebeband auf Pappe fixiert – ein Schulfoto, wie aus einem vergessenen Nachlass gezogen. Vielleicht zaubert es uns auf den ersten Blick sogar ein Lächeln ins Gesicht – wo sieht man schon einmal so viele lachende Gesichter? Was für eine Kraft von diesem Bild ausgeht! Doch ist die Diskrepanz zwischen der Fröhlichkeit der Mädchen und unserer Ahnung, welchem Schicksal diese Kinder einer jüdischen Schule in Berlin wohl zugeführt wurden, kaum erträglich.

International Holocaust Rememberance Day

Am 27. Januar 1945 haben sowjetische Soldaten das Vernichtungslager Auschwitz befreit. In Erinnerung daran gilt der 27.1. in Deutschland als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, und zwar seit dem Jahr 1996. In der noch jungen wiedervereinigten Republik wurde damals intensiv um die Erinnerungskultur – insbesondere jene zur Shoah – gerungen. Das kristallisierte sich insbesondere an der sieben Jahre währenden politischen und ästhetischen Debatte um das Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. Auch auf internationaler Ebene wurde zwei Generationen nach dem Genozid ein Signal gesetzt, als die Vereinten Nationen den 27. Januar im Jahr 2005 als International Holocaust Rememberance Day einführten.

The Missing House, Große Hamburger Straße, Berlin, 1990

Parallel zu dieser Entwicklung setzten Konzeptkünstler:innen in den 1990ern leise und oft ephemere Zeichen im öffentlichen Raum Berlins, markierten authentische traumatische Orte und transformierten sie mit wenigen künstlerischen Eingriffen im Sinne einer neuen individualisierten Gedenkkultur. Eine der prägenden Figuren war der französische Künstler Christian Boltanski, in dessen Werk die Spurensicherung von Vergangenem eine große Rolle spielt. Sein The Missing House (1990) akzentuiert bis heute eine kriegsbedingte Häuserlücke in der Großen Hamburger Straße durch 24 Schilder an den angrenzenden Brandmauern. Die Beschriftungen geben lediglich Namen, Berufsfelder und Mietzeiten zwischen 1930 und 1945 der früheren Bewohner:innen des Missing House an. Zahlreiche jüdische Namen verdeutlichen, dass die Leerstelle des Hauses auch zur Metapher für die deportierten und ermordeten Menschen wird.

Schwarzweißfotografie einer größeren Gruppe lächelnder Mädchen, mit Klebeband an den Ecken fixiert.

Die Jüdische Schule (Berlin 1939), 1992

Boltanskis Kunstwerke zeichnen sich dadurch aus, dass sie konkrete Ereignisse der Geschichte mit übergreifenden Fragen menschlicher Existenz verbinden. Als Sohn eines jüdisch-ukrainischen Vaters und kurz nach der Befreiung von deutscher Besatzung in Paris geboren, bezieht er sich in vielen seiner recherchebasierten Installationen auf Gewalterfahrungen.

Mit dem Bild der lachenden jüdischen Mädchen reproduzierte Boltanski eine mutmaßlich authentische Aufnahme aus den späten 1930ern und vergrößerte sie als Lithographie auf dünnem Pergamentpapier. In den hinzugefügten Knitterspuren wird die Fragilität der Situation förmlich greifbar. Die jüdische Publizistin Hannah Arendt (1906-1975) erinnert aus ihrer eigenen Kindheit in Deutschland in den 1910ern Jahren, dass der „Antisemitismus […] allen jüdischen Kindern begegnet“ sei. „Und er hat die Seelen vieler Kinder vergiftet.“

In den 1930er Jahren verschlimmerte sich die Situation noch einmal dramatisch. Öffentliche Schulen schlossen jüdische Kinder zunehmend vom Unterricht aus. Nach den Novemberpogromen 1938 wurde ihnen der Zugang sogar ganz untersagt. Insofern mag die jüdische Schule als Umgebung der Mädchen in Boltanskis Lithographie zeitweilig ein realer Schutzraum gewesen sein – gegen den Rassismus und die existenzielle Bedrohung von außen. Diese Refugien brachen jedoch spätestens 1942 zusammen, als alle jüdischen Schulen zwangsweise geschlossen wurden.

Aus dem Wissen um den Genozid ergänzen wohl die meisten von uns beim Blick auf die lachenden Kinder und die Information „Berlin 1939“ unweigerlich den katastrophalen historischen Kontext. Zwischen dem Werk und uns Betrachter:innen kann so ein Moment der Berührung und ein Raum des Nachdenkens entstehen. Auf dieser persönlichen Ebene erlangt selbst ein zerknittertes kleines Bild die Dimensionen eines bewegenden Mahnmals und schärft das Bewusstsein für Gefährdungen in der Gegenwart.