Maike Hohn und Dr. Dorit Schäfer, 21. August 2025

Jean-Baptiste Greuze – ein Künstler der Empfindsamkeit

Vor 300 Jahren, am 21. August 1725, wurde eine der schillerndsten Künstler des 18. Jahrhunderts geboren: der Maler und Zeichner Jean-Baptiste Greuze.

Von vielen Mitgliedern europäischer Königshäuser bewundert und gesammelt, stand sich Greuze (1725-1805) historischen Dokumenten zufolge mit seinem übermäßigen Stolz selbst im Weg. Denis Diderot (1713-1784), Philosoph und Kunstkritiker sowie zeitweise ebenfalls glühender Bewunderer von Greuze, riet Zarin Katharina II. (1729-1796) sogar aus diesem Grund von einer Einladung des Künstlers nach St. Petersburg ab. Erschwerend führte er dabei auch dessen Ehefrau an, die er – wenig schmeichelhaft – beschrieb als „eine der gefährlichsten Kreaturen, die es auf der Welt gibt.“

Das Licht der Welt erblickte Greuze in der Provinz nördlich von Lyon. Bald schon, um 1750, sollte jedoch Paris für den damals Fünfundzwanzigjährigen zum zentralen Wirkungsort werden.
Der eigenwillige Künstler ist neben seinen Porträts bis heute vor allem für seine Genrebilder bekannt. Diese wurden bereits von Zeitgenoss*innen als bildliche Umsetzungen bürgerlicher Moral interpretiert und haben Greuze den Ruf als Maler der Empfindsamkeit par excellence eingetragen. Die Bandbreite dieser Darstellungen reicht von figurenreichen, dramatisch geschilderten Szenen aus dem Familienleben bis zu einfühlsam erfassten Einzeldarstellungen junger Mädchen, die den Verlust von Jungfräulichkeit und Unschuld thematisieren. Seine Motive zielten darauf ab, die Betrachter*innen zu rühren und zu ergreifen, und sie dadurch zu tugendhaftem Verhalten anzustiften.

Um eine möglichst große Verbreitung seiner Bilderfindungen zu erreichen, forcierte Greuze die druckgrafische Reproduktion seiner Schlüsselbilder. Diese konnten günstig erworben werden und wurden – ähnlich wie Gemälde – gerahmt als Wandschmuck genutzt. Im Bestand der Kunsthalle haben sich – neben einem eigenhändigen Gemälde und zwei Zeichnungen – einige Beispiele dafür erhalten:

Ein Kupferstich in dem eine Gruppe von Männern, Frauen und Kindern zusammensitzen. Während die Frauen in der rechten neugierig aussehen, diskutieren die Männer in der linken Bildhälfte miteinander. Ein Mann steht zwischen den Frauen, ist zu den Männern geneigt und wirkt als würde er sich streiten.
Jean-Baptiste Greuze (Erfinder), Jean-Jacques Flipart (Künstler), „Le Paralitique servi par ses Enfans“, 1767
Kupferstich eines Mädchens, das ihre Kopf traurig senkt und in die Hans stützt, vor ihr liegt ein toter Vogel auf einem Käfig. Umgeben ist ihr Brustporträt von einem runden mit Efeu bewachsenen Rahmen. Unter dem Rahmen steht A La Duchesse Madame de Gramont.
Jean-Baptiste Greuze (Erfinder), Jean-Jacques Flipart (Künstler), „Mädchen beweint seinen toten Vogel“, 1766
Ein Kupferstich in dem eine Gruppe von Männern, Frauen und Kinder zusammensitzen. Während die Frauen in der rechten Bildhälfte bedrückt aussehen, Hausarbeit nachgehen und neugierig aussehen, diskutieren die Männer in der linken Bildhälfte miteinander. Ein Mann steht zwischen den Frauen, ist zu den Männern geneigt und lässt sich etwas erklären.
Jean-Baptiste Greuze (Erfinder), Jean-Jacques Flipart (Künstler), „L’Accordée de Village“, 1770

Anne-Gabrielle Babuti – eine Frau mit Widersprüchen

Von Greuze haben sich viele Kopf- und Ausdrucksstudien in roter Kreide, sogenanntem Rötel erhalten. Künstler*innen des 18. Jahrhunderts hatten eine Vorliebe für die Anwendung dieser körnigen, warmen Farbtöne, erzeugt durch den Eisengehalt der Tonerde. Insbesondere bei Figurendarstellungen rufen sie eine lebendige, pulsierende Wirkung hervor. Auf Grund seiner farblichen Nähe zu Blut wird der Rötel im Französischen treffender Weise auch „sanguine“ (deutsch: Blut) genannt.

Greuzes Darstellung der Anne-Gabrielle Babuti (1732 – nach 1812) ist besonders lebensnah. Ihr im Schlaf zurückgelehnter Kopf, die geschlossenen Lider und der leicht geöffnete Mund veranschaulichen die Entspanntheit der jungen Frau, die offenbar in einem Lehnstuhl eingeschlafen ist. Ihre zarten Gesichtszüge führte der Künstler mit feinen Kreidestrichen detailliert aus, während er die rahmende Haube über dem gelockten Haar nur lose skizzierte und den Kragen des Gewandes mit energischen Strichlagen rasch und akzentuiert andeutete. Die nahe Sicht auf die arglos Schlafende vermittelt eine zärtliche, liebevolle Intimität.

Die Rötelzeichnung von Jean-Baptiste Greuze zeigt das Gesicht einer Frau bis knapp über die Brust. Sie ist in den Schlaf gefallen und ihr Kopf leicht zur Seite geneigt. Sie trägt eine Schlafhaube, darunter lockiges Haar und ihre Gesichtszüge wirken neutral und entspannt. Die Zeichnung ist rot auf einem gelblichen Papier.
Jean-Baptiste Greuze, „Kopf einer Schlafenden (Anne-Gabrielle Babuti)“, vor 1777
Eine junge Frau in einem ausladenden Kleid sitzt schlafend auf einem Stuhl auf ihrem Schoß sitzt ein schlafendes Hündchen. Umgeben ist sie von Gegenständen aus der Wissenschaft wie einem Globus, Schreibwerkzeug, Büchern.
Jean-Baptiste Greuze (Erfinder), Jean Michel Moreau le Jeune, „La Philosophie endormie“, 18. Jahrhundert

Dabei war Greuzes Beziehung zu Anne-Gabrielle Babuti mehr als problematisch: 1759 heiratete er die für ihre Schönheit stadtbekannte, wohlhabende Tochter eines Buchhändlers, die eine beachtliche Mitgift in die Ehe brachte. Oftmals nutzte er sie als Modell für seine zahlreichen Darstellungen junger Frauen. Doch stand die Ehe unter keinem guten Stern. Dokumentiert sind neben Diderots Erwähnung (s.o.) auch ein Polizeibericht von 1785 sowie ein vom Künstler selbst verfasstes Memorandum, in dem er seine Frau der Untreue und der Verschwendungssucht beschuldigt. Eine Stellungnahme Anne-Gabrielles hat sich allerdings nicht erhalten – haben wir es also mit einer einseitigen Perspektive zu tun? 1793 wurde die von dramatischen Szenen begleitete Ehe schließlich geschieden.

Die Karlsruher Studie verwendete Greuze für eine ganzfigurige Darstellung seiner Frau, die er eingeschlafen in einem großen Sessel, bequem an ein Kissen gelehnt und mit Hündchen auf dem Schoß, als eingeschlafene Philosophie tituliert. Nach dem Bild erschien 1777 eine von Jean Michel Moreau le Jeune (1741-1814) geschaffene Druckgrafik, Dédiée à Madame Greuze (Madame Greuze gewidmet). Stickrahmen und Garnrolle liegen am Boden vor ihren zierlichen Füßen. Doch vor allem fallen die vielen Bücher und Folianten auf, dazu ein Globus und ein Federkiel, die auf ihre Gelehrsamkeit, die im Titel genannte Philosophie, deuten. Es scheint, als würde der Künstler hier ein ironisches Porträt seiner Frau in die Öffentlichkeit tragen: Die sanft Entschlummerte, mit dem Hund als Treuesymbol auf dem Schoß, scheint gar nichts mit der Frau zu tun zu haben, die als so bösartiger Charakter in die Geschichte einging.

Claude-Henri Watelet – Hommage an die Freundschaft

Greuze war unter seinen Zeitgenoss*innen gut vernetzt. Eine wichtige Freundschaft verband ihn mit dem wohlhabenden Kunstschriftsteller, Sammler und Kupferstecher Claude-Henri Watelet (1718-1786). In seiner kleinformatigen Grisaille stellte er Watelet in privaten Räumen dar, während er entspannt am Fenster lehnt und ein großes Schriftstück – vielleicht einen architektonischen Grundriss – betrachtet. Die weibliche Bildnisbüste im Raum zeigt Watelets jahrzehntelange Lebensgefährtin, die verheiratete Marguerite Le Comte (1717-1800), mit der Watelet auf dem Landsitz Moulin joli (Schöne Mühle) vor den Toren von Paris lebte. Dort empfing das Paar zahlreiche Gäste – Amateur*innen, Künstler*innen und Personen von Rang und Namen gingen ein und aus. Auch die badische Markgräfin Karoline Luise (1723-1783) und ihr Ehemann Karl Friedrich (1728-1811) zählten zu den Besucher*innen von Moulin joli.

Bild eines Mannes der an einem geöffneten Fenster mit dem Rücken steht. Durch den Wind weht der Vorhang im sonst dunklen Zimmer in den Raum. Der ältere Mann hält ein großes Schriftstück in der and und schaut es interessiert an.
Jean-Baptiste Greuze, „Claude-Henri Watelet“, um 1765
Bild eines Mannes der an einem geöffneten Fenster mit dem Rücken steht. Durch den Wind weht der Vorhang im sonst dunklen Zimmer in den Raum. Der ältere Mann hält ein großes Schriftstück in der and und schaut es interessiert an.
Jean-Baptiste Greuze (Erfinder), Claude Henri Watelet (Künstler), „Claude Henri Watelet“, 18. Jahrhundert

Dass Greuze das Bild seines Freundes als Grau-in-Grau-Malerei anlegte, kommt nicht von ungefähr: Mit dieser Maltechnik lassen sich Licht- und Schattenwerte, wie sie für eine Übertragung in das Medium der Druckgrafik wichtig sind, besonders prägnant erfassen. Und so kam es dann auch: Der in vielen künstlerischen Techniken versierte Dilettant Watelet nutzte selbst die sogenannte Grisaille als Vorlage für eine druckgrafische Umsetzung der Komposition. In seiner Überarbeitung ergänzt er einige Details – mit dem zweiten Vorhang streicht er noch stärker als Greuze den Bezug zur gemeinsamen künstlerischen Vorlage heraus: Rembrandts Radierung des Amsterdamer Bürgermeisters Jan Six aus dem Jahr 1647.

Watelet war ein begeisterter Sammler der druckgrafischen Arbeiten Rembrandts und hat selbst nach ihnen gearbeitet. Wie der von Rembrandt dargestellte Six Freund und Wohltäter des Künstlers war, so galt dies gleichermaßen für Greuze und Watelet. Bei der Grisaille handelt es sich also um eine Hommage an das künstlerische Vorbild Rembrandt, aber vor allem auch an die Freundschaft!

Sophronie – Verwirrspiel der Liebe und der Linien

Das Vorbild Rembrandt ist auch im Stil dieser furiosen Pinselzeichnung von Greuze deutlich erkennbar. Lockere, sich verdichtende Linien lassen den zeichnerischen Prozess nachvollziehen, entziehen sich in ihrem verworrenen Dickicht jedoch zunächst einer Lesbarkeit. Die obere Hälfte des Bildes erscheint annähernd abstrakt: ein hoher, teils verschatteter Raum, in den durch eine Tür und ein Fenster Licht eindringt. Schlingernde Linien deuten große Vorhänge an. In einer wirbelnden Komposition sind unten drei Figuren erkennbar. Zwischen zwei Frauen gestikuliert leidenschaftlich ein kniender junger Mann. Deutlich unterstreichen die bewegten Linien der Zeichnung die Emotionalität des Geschehens.

Die theatralische Szene illustriert einen dramatischen Moment aus dem Roman Sophronie der Schriftstellerin Françoise-Albine Benoist (1730-1795): Ein junger Mann hält um die Hand der jungen Adèle an, deren Mutter Sophronie ausgerechnet ihn gerade verführen wollte. Benoist, die sich in ihren Werken der weiblichen Erziehung und ihren Tugenden widmete, wollte im Verwirrspiel Sophronie die Wirkung einer Emotion auf verschiedene Charaktere beschreiben: In den bildlichen Wiedergaben ihrer Szenen von Greuze, den sie rühmte, fühlte sie sich besonders verstanden. Das Blatt diente als Vorlage für eine von Jean Michel Moreau le Jeune gefertigte Druckgrafik zur Illustration des Frontispizes – dem Titelblatt – ihres 1769 publizierten Romans.

Skizzenhafte Pinselzeichnung in Braun bei der ein Mann vor einer Frau kniet. Sie sitzt und hat den Kopf in die Hand gestützt. Beobachtet wird die Szene von einer weiteren Frau.
Jean-Baptiste Greuze, „Kompositionsstudie für Sophronie“, wohl 1768

Diese moralisierende und emotionsgeladene Literatur entsprach durchaus der Zeit: Auch der große Aufklärer und Mitbegründer der Enzyklopädie Denis Diderot verfolgte in seinem Theaterkonzept des gefühlsbetonten Drame bourgeois das erzieherische Ideal, Tugenden erstrebenswert und Laster verhasst darzustellen (Rendre la vertu aimable, la vice odieux). Das Jahrhundert der Aufklärung war eben auch das Jahrhundert der Empfindsamkeit: Vernunft, Raison, und Gefühl, Sentiment, stehen gleichberechtigt nebeneinander.

Diderot schätzte daher die Genrebilder von Greuze über die Maßen und widmete dem Künstler in seinen Salonbesprechungen ausführliche positive Kritiken. Den hitzigen und eitlen Charakter dieses ungewöhnlichen Künstlers nahm er dabei als eine zum Genie notwendig gehörende Eigenschaft gern in Kauf: „Wenn Sie kaltes Wasser auf den Kopf von Greuze schütten, dann werden sie womöglich sein Talent mit seiner Eitelkeit löschen.“