Augenblicke: Street Photography rund um den Globus von Adelheid Heine-Stillmark
Unter den zahllosen Werken, die im neuen Sammlungsbereich Fotografie der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe zu erforschen sind, befindet sich eine besondere „Schatzkiste“.
Diese große Archivschachtel beinhaltet rund 900 Vintage Prints (Originalabzüge) der Karlsruher Fotografin und Bildjournalistin Adelheid Heine-Stillmark. 2023 fanden diese Aufnahmen aus ihrem persönlichen Archiv Eingang in den Bestand der Kunsthalle. Die Studioausstellung Augenblicke gibt mit einer Auswahl der in den 1960er- und 1970er-Jahren entstandenen Schwarz-Weiß-Fotografien einen Einblick in das Schaffen von Adelheid Heine-Stillmark, das bislang noch nirgendwo als künstlerische Arbeit präsentiert wurde, aber als solche entdeckt zu werden verdient.
Adelheid Heine-Stillmark wurde 1939 als älteste Tochter von Schauspielereltern in Lübeck geboren, erlebte dort die Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre und wuchs anschließend in Erfurt auf. Ab 1955 lebte sie bei ihrem verwitweten Großvater in Karlsruhe. Dort absolvierte sie zunächst eine Ausbildung als Fotolaborantin und anschließend als Fotografin im alteingesessenen Fotostudio und Ladengeschäft von Erich Bauer (1908–1984). 1963 erwarb sie zusätzlich einen Meisterabschluss als Fotografin. Lange Jahre war sie in ihrem Lehrbetrieb beschäftigt und organisierte dort als Studiosekretärin etwa Mode- und Werbeaufnahmen. Diese Tätigkeit machte sie von Grund auf mit dem breiten Anwendungsbereich des Mediums von der Amateurfotografie über klassische Studioporträts bis zur Gebrauchsfotografie für Werbung und Illustrationszwecke vertraut.
Streifzüge
Ihre Handschrift als Fotografin entwickelte sie jedoch nicht im Zusammenhang der Arbeit bei Foto Bauer, sondern abseits des Studios, buchstäblich auf anderem Terrain: Die ersten Fotoausflüge führten sie durch Karlsruhe oder in die umliegenden Orte im Elsass, wo sie etwa Straßenszenen auf Floh- und Wochenmärkten festhielt. Auf ihren Streifzügen interessierte sie sich stets für flüchtige Momente des Alltäglichen, deren Besonderheit erst die Fotografie sichtbar zu machen vermag. Mit einer leichten und unauffälligen Kamera, einer Leica, ausgestattet, fotografierte sie spontane Bilder ohne vorgängige Inszenierung. Diese Art beiläufiger Beobachtungen, die sich Situationen und Menschen nähert, ohne sich einzumischen oder aufzudrängen, ließe sich in der street photography zuordnen.
Zwar gibt Heine-Stillmark an, sich nicht an bekannten Vertreter*innen des Genres wie etwa Henri Cartier-Bresson (1908–2004) orientiert zu haben. Dieser beeinflusste Generationen von Fotograf*innen nicht nur durch seine fotografische Praxis, sondern prägte mit dem Diktum des „entscheidenden Augenblicks“ („le moment décisif“) auch die Formel, die das nur einen Sekundenbruchteil währende Zusammentreffen eines inhaltlich interessanten Sujets und einer formal reizvollen Konstellation umreißt. Selbst ohne die bewusste Auseinandersetzung mit dem Fotografen lässt sich in den Aufnahmen Heine-Stillmarks ebenso „le moment décisif“ wiederfinden, die Geistesgegenwart im Erkennen von Motiven und die gleichzeitig schlafwandlerische Beherrschung der Technik, die ein gelungenes Bild ausmachen.
Begegnungen
Seit den frühen 1960er-Jahren unternahm Heine-Stillmark – durchaus ungewöhnlich für eine junge Frau der Zeit – zahlreiche Fernreisen, die sie dank der ersten zusätzlichen Einkünfte aus dem Verkauf ihrer Bilder finanzieren konnte. Die Fotografie führte sie an weit entfernte Orte und brachte sie mit Menschen aus allen Erdteilen in Kontakt. Gemeinsam mit organisierten Reisegruppen besuchte sie Orte, die vielfach zum Weltkulturerbe zählen, wie die ägyptischen Pyramiden oder präkolumbianische Städte Mittel- und Südamerikas, und die durch den beginnenden Massentourismus erobert wurden. Doch ihre Bilder zeigen nicht den touristischen Blick auf wiedererkennbare Sehenswürdigkeiten und monumentale Bauten, sondern schildern das Zusammentreffen mit unbekannten Kulturen in dokumentarischer Manier und teils mit leiser Ironie: So fokussierte die Fotografin etwa den Mikrokosmos der Reisegruppe statt des eigentlichen Höhepunkts, nämlich der Aussicht auf die im Nebel verborgene Inka-Stadt Machu Picchu.
Ob in Südamerika, Asien oder Mitteleuropa, die Fotografin hegte ein besonderes Interesse für das Zusammenleben der Menschen, scheinbar banale Situationen und Momente des Wartens, der Langeweile oder des Ereignislosen, denen sie einen eigenen Reiz abgewinnt. Inmitten einer dichten, geschäftigen Gruppe von Frauen und Mädchen verschiedener Lebensalter erfasst die Kamera ein in sich gekehrtes Mädchen mit in die Ferne gerichtetem Blick, der gleichsam in die Zukunft weist. In einer Gruppe von gleich gekleideten Trachtenträgern, aufgereiht auf einer Bank sitzend, erkennt sie eine Studie verschiedener Physiognomien, Gesichtsausdrücke und Gemütszustände. Diese Aufnahmen entstanden oftmals unbemerkt, aber auch in unausgesprochenem Einvernehmen durch den Blickkontakt der Fotografierten mit dem Auge der Kamera.
Blickwinkel
Darüber hinaus fesselten Stadtraum und Architektur immer wieder die Aufmerksamkeit von Adelheid Heine-Stillmark. Auch dabei lotete sie die Möglichkeiten aus, mit der Kamera dem Bekannten etwas Neues zu entlocken. Ungewöhnliche Blickwinkel und Bildausschnitte erinnern an die Stilmittel des „Neuen Sehens“ und inszenieren Elemente der Architektur, die eine grafische Wirkung entfalten: So stützt der Blick entlang der gerasterten Fassade eines modernen Hochhauses in der Millionenstadt São Paulo hinab bis zu den ameisengroßen Passanten. Auch in zahlreichen Aufnahmen historischer Bauten werden Muster, Strukturen und Oberflächen durch enge Bildausschnitte aus ihrem architektonischen Zusammenhang herausgelöst. Dabei erzeugen die starken Kontraste von Licht und Schatten eigengesetzliche Muster und verstärken die abstrahierende Wirkung, die auf den Gegensatz von Schwarz und Weiß der Fotografie zurückführt.