Provenienzforschung – über Praxis und Relevanz
Zum internationalen Tag der Provenienzforschung gibt Dr. Tanja Baensch Einblicke in die Tätigkeiten einer Provenienzforscherin an einem Kunstmuseum, aber auch in die Herausforderungen und Chancen dieser wissenschaftlichen Disziplin.
Provenienzforschung in der Praxis
Die Provenienzforschung ist einer der spannendsten und wichtigsten Bereiche der musealen Arbeit. Worin liegen die besonderen Herausforderungen in der Sichtbarmachung von Provenienzforschung?
Ich empfinde es als besondere Herausforderung, die vielen Facetten der Provenienzforschung im Allgemeinen und die komplizierten Zusammenhänge zur Geschichte eines Kunstwerks im Besonderen stringent und anschaulich zu vermitteln. Zur Provenienzforschung im Allgemeinen ließe sich viel sagen, weil sie zu einer eigenen Disziplin avanciert ist. Das Themenspektrum reicht von ihrer Entstehungsgeschichte, ihren Anforderungen, ihren Bezugsbereichen, ihrer Rolle in der universitären Forschung oder im Museumswesen über ihren zeitlichen Horizont, ihre juristischen Implikationen, ihre Instrumentarien, ihre Arbeitsweisen bis – nicht zuletzt – zu ihrer ethisch-politischen Rolle.
Auch zur Geschichte eines einzelnen Kunstwerks gibt es viele Fragen: Wer waren seine Eigentümer*innen oder Besitzer*innen, warum erwarben sie es, warum trennten sie sich von ihm, wie, wann und warum kam es zu den Eigentumswechseln, welche Spuren der Eigentümer*innen befinden sich auf seiner Vorder- und Rückseite, welche Netzwerke bildeten sie, in welchen schriftlichen Quellen wird das Werk erwähnt, welche Erinnerungen verknüpfen sich damit, was bedeuten diese Faktoren für seine Wahrnehmung u.v.m.
Wo liegt der Fokus der Provenienzforschung der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe?
Der Fokus ergibt sich aus dem Sammlungsbestand. Die Sammlung der Kunsthalle besteht vorwiegend aus Gemälden, die im Lauf der Jahrhunderte von den badischen Markgrafen, Markgräfinnen und Großherzögen sowie später vom Land Baden in seiner historischen Entwicklung erworben wurden. Die Galeriedirektor*innen nahmen unterschiedlichen Einfluss auf die Entwicklung dieser Sammlung. Eine Sammlung entsteht in einem sehr dynamischen Prozess. Da spielen nicht nur gezielte Ankaufsstrategien und Programme eine Rolle, sondern – jeweils unter den unterschiedlichen historischen Bedingungen – zum Beispiel auch Vorlieben, Erbschaften, Geschenke, Verlustumstände (Diebstahl, Zerstörung, Aussonderung etc.) und vieles mehr.
Die Provenienzforschung der Kunsthalle untersucht Schritt für Schritt die Geschichte der Kunstwerke in ihrer Sammlung. Im besonderen Fokus steht dabei die Bestandsprüfung im Hinblick auf NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut. Jedes Kunstwerk, das ab 1933 (bis heute) erworben wurde und bis 1945 entstanden ist, könnte theoretisch in seiner Geschichte unrechtmäßig seinen Eigentümer*innen entzogen worden sein. Wir versuchen, das zu klären. Zum Arbeitsfeld zählt aber auch die Prüfung der Herkunfts- und Eigentumsgeschichte von Kunstwerken zum Beispiel in Leihverfahren oder bei Neuankäufen.
Wie bestimmen sich für Sie die jeweiligen Projekte und wie nähern Sie sich diesen ganz konkret? Und mit Blick darauf, dass die Fälle Jahrzehnte zurückliegen: Wie gehen Sie bei der Recherche vor, welche Methoden nutzen Sie und wie definieren Sie einen Anfang und ein Ende?
Das ist eine sehr komplexe Fragestellung, die nur beispielhaft mit einzelnen Aspekten zu beantworten ist. In erster Linie untersuche ich die Eigentumsgeschichte von Kunstwerken. Welche Kunstwerke ich mir vornehme, hängt von vielen Faktoren ab, die Bestandsprüfung der Kunsthallen-Sammlung bildet eine gewisse Konstante. Zumeist wird es aber im Zusammenhang von Anfragen, Leihverfahren, Ankäufen, Schenkungen oder Antragstellungen auf Rückgabe notwendig, die Provenienz eines Werkes näher zu prüfen.
In der Rechercherichtung, die vom Objekt ausgeht – wie es an Museen der Fall ist – beginnt die Recherche idealerweise am Objekt selbst. Wir prüfen, welche Hinweise das Werk, vor allem seine Rückseite, auf seine Geschichte gibt. Dort befinden sich oft Stempel, Etiketten, Beschriftungen o.ä., die Indizien auf frühere Eigentümer*innen bilden. Dann schaue ich in den sammlungseigenen Bestandsverzeichnissen, wie ein Werk dort vermerkt ist. Diese Verzeichnisse sind ja mit der Geschichte der Sammlung mitgewachsen, also eine Quelle ersten Grades. Die quellenkritische Recherche setzt sich dann vielfältig in Datenbanken, Werkverzeichnissen, monographischer Literatur, Archiven usw. fort. Wir versuchen, Stück für Stück herauszufinden, von wann bis wann das Werk einer bestimmten Person gehörte und wie diese einzuordnen ist. Die dabei gewonnenen Informationen nutzen wir, um weitere Eigentumsstationen herauszufinden. Manchmal muss man sehr um die Ecke denken oder erst größere Kontexte verstehen, um der Geschichte des einzelnen Werks auf die Spur zu kommen und für seinen heutigen Eigentumsstatus die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Ein Ende ist im Idealfall, wenn die Provenienz eines Kunstwerks vollständig geklärt ist und sie sich als unbedenklich erwiesen hat. Wenn sie lückenhaft bleiben muss, weil man sie – selbst bei größter Anstrengung – nicht ermitteln kann, ist das immer etwas unbefriedigend. Wir Provenienzforscher*innen haben aber lernen müssen, mit solchen Lücken zu leben. Wenn sich die Provenienz eines Werkes als belastet erweist, folgt ein manchmal langer Restitutionsprozess, bis eine faire und gerechte Lösung für den Verbleib des Werkes gefunden wurde.
Chancen und Herausforderungen der Provenienzforschung
Worin sehen Sie die Verantwortung und die Chancen der Provenienzforschung?
Die Provenienzforschung trägt dazu bei, über die Objektgeschichte auf Aspekte von Kulturgeschichte und damit Identitäten von Gemeinschaften, aber auch vor allem auf menschliche Schicksale und geschehenes Unrecht aufmerksam zu machen. An Objekten, hier Kunstobjekten, lässt sich das festmachen. Wenn festgestellt wird, dass es sich bei einem untersuchten Werk um NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut handelt, gehen die Anstrengungen dahin, zu einer fairen und gerechten Lösung zu kommen und die Rechtmäßigkeit des Besitzes herzustellen. Darin liegt durchaus der Ausdruck für ein Bestreben nach einer möglichst weitreichenden Wiedergutmachung. Im Fall einer Rückgabe kann mit dem Objekt, das ja mehr ist als nur seine Materialität, zum Beispiel ein wichtiger Teil einer Familienidentität zurückkehren.
Inwiefern verändert sich aus Ihrer Perspektive eine Einrichtung durch die Provenienzforschung zu den einzelnen Werken ihrer Sammlung ?
Sowohl über die Aufarbeitung ihrer Sammlungsgeschichte als auch diejenige der Objektgeschichten dokumentiert eine Einrichtung, dass sie bereit ist, sich der kritischen Untersuchung zu stellen – und damit auch unangenehme Seiten aufzudecken, aber auch Interessantes zu erfahren. Sie wird sich ihrer selbst und ihrer eigenen historischen Bedingtheit bewusst. Eine Institution kann dabei nur gewinnen, in ethisch-moralischer, kulturgeschichtlicher, auch wirtschaftlicher Hinsicht, denn all diese Aspekte verbinden sich mit der Dinglichkeit der Kunstwerke. Mit der Provenienzforschung lassen sich auch zahlreiche vergessene Geschichten aufdecken, und die können manchmal äußerst spannend sein.
Wie haben Sie die Entwicklung der Provenienzforschung in den vergangenen Jahren beobachtet?
Ich bin seit 2010 im engeren Sinne in der Provenienzforschung tätig, nachdem ich lange im Bereich von Museums- und Sammlungsgeschichte geforscht hatte. Als ich an der Hamburger Kunsthalle in einem Dreijahresprojekt anfing, gab es insgesamt noch nicht sehr viele Provenienzforscher*innen. Jede Anfrage für ein Forschungsproblem bedeutete viel Überzeugungskraft, um an notwendige Informationen herankommen zu können. Diese Situation und der Status der Provenienzforschung haben sich im Laufe der letzten Jahre ziemlich verändert. Wir sind mittlerweile mehrere hundert Forscher*innen im deutschsprachigen Bereich. Viele Medienberichte haben das Anliegen inzwischen in der Öffentlichkeit verbreitet. Die Professionalisierung der Provenienzforschung hat zu einer stetigen Verbesserung von Methoden und Strukturen der Arbeit geführt. Und doch stellen wir auch immer wieder fest, dass die Forschung eine Zeit benötigt, die zum Beispiel ehemals Geschädigte oder ihre unmittelbaren Erben und Erbinnen nicht mehr haben. Da tut sich eine schmerzliche Diskrepanz auf.
Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf und die vielversprechendsten Entwicklungschancen für die Provenienzforschung?
Da jedes Kunstwerk, jedes Objekt seine individuell eigene Provenienz hat und die historischen Kontexte oft sehr komplex sind, ist die Vielfalt der Forschung entsprechend groß. Synergieeffekte lassen sich in der Forschung nur über einen kontinuierlichen Austausch erzielen. Die Provenienzforschung lebt vom Austausch von Erfahrungswerten, Ergebnissen und Methoden. In jedem Zweig der Provenienzforschung gibt es noch große Forschungslücken. Es ist wie in jeder Forschung: Jedes gelöste Problem wirft wieder neue Fragen auf.
Die Verbesserung der Arbeitssituation der Provenienzforscher*innen bleibt ein drängendes Thema. Wir brauchen insgesamt mehr Stabilität in der Forschung über mehr entfristete Stellen. So können Erfahrungswerte aufgebaut, Erkenntnisse vertieft und methodische Hilfsmittel langfristig entwickelt werden. In den Kunstmuseen des Landes Baden-Württemberg ist dies seit 2015 der Fall.
Da die Provenienzforschung entsprechend der Bewegung der Kunstwerke grenzüberschreitend arbeitet, ist es zunehmend wichtig, die internationalen Kontakte noch zu intensivieren. Die Provenienzforscher*innen sind, um weiterzukommen, auch hier auf enge Kooperationen sehr angewiesen. Ein großes Glück ist, wie die Arbeit der Provenienzforschung Menschen verschiedener Länder und Kulturen zusammenführt.
Warum ist die Provenienzforschung für die Zukunft eines jeden Museums von so großer Bedeutung?
Da kommen verschiedene Gründe zusammen, in erster Linie aber, weil es sich damit seiner historischen Verantwortung stellt. Es wird sich darüber hinaus aber auch generell seiner geistigen und materiellen Werte bewusst. Mit der Provenienzforschung wird außerdem gezeigt, welches kritische Geschichtsverständnis und kulturelle Selbstverständnis ein Museum und sein Träger haben und auch vermitteln wollen. Als kulturelles Aushängeschild mit Signalwirkung sind Museen in dieser Hinsicht sehr wichtig. Die Provenienzforschung setzt einen selbstreflektierenden Ansatz voraus, der immer wieder neuen, offenen Fragen an die Geschichte verpflichtet ist.
In den letzten Jahren hat die Provenienzforschung in der öffentlichen Wahrnehmung an Bedeutung gewonnen, Stellen wurden geschaffen und Fälle medial diskutiert – was meinen Sie, woran das liegt?
Die Gründe sind vielschichtig. Zunächst wurde der öffentliche Druck durch erste Restitutionsfälle massiv. Das führte zu einem sich steigernden Bewusstsein in die Notwendigkeit, sich strukturiert der Herkunftsgeschichte der Kunstwerke zu widmen. Einzelne traten dann einen Schritt nach vorn. Ich nenne hier besonders Dr. Uwe M. Schneede, der dafür sorgte, dass an der Hamburger Kunsthalle die erste Stelle für Provenienforschung eingerichtet wurde. Aber selbst ihm, das hat er immer wieder selbst erzählt, war am Anfang nicht bewusst, dass die Provenienzforschung eine Daueraufgabe an den Museen ist. Diese Erkenntnis hat sich erst nach und nach mit fortschreitender Einsicht in die komplexen Forschungsnotwendigkeiten herausgebildet. Auch z.B. im Kunsthandel waren es zunächst Einzelne, die sich der Provenienzforschung gegenüber öffneten.
Es dauerte leider lange, und dafür gibt es viele komplexe Gründe, bis eine offene analytische Aufarbeitung der NS-Geschichte in verschiedensten Bereichen endlich begann. Im Laufe der letzten Jahre, in denen die Provenienzforschung an Profil gewann und sich stärker professionalisierte, wurden Fragen erstmals formuliert und problematisiert, an die vorher niemand, jedenfalls nicht öffentlich und nicht systematisiert, gedacht hatte. Mit fortschreitender Forschung wurden die Dimensionen ihres Gegenstandes erst offenbar, und dies hatte ihre weitere Intensivierung und größere öffentliche Bedeutung zur Folge.