Über die Bedeutung der Herkunftsrecherche im Kontext des Themenjahres
Jedes Kunstwerk, jedes kulturhistorische Objekt überhaupt, ist nicht nur durch das charakterisiert, was es darstellt oder was seine Darstellung bedeutet. Es hat seine eigene dingliche Geschichte, seine eigene Biografie, die zeitlich mal kürzer, mal weiter zurückreicht.
Dazu zählen die Umstände seiner Entstehung und der Weg, den es danach genommen hat. Dieser Weg ist geprägt durch die Eigentums- oder Besitzgeschichte eines Objekts. Und zu jedem Vorgang des Erwerbs oder der Veräußerung führten eigene Beweggründe.
Die Provenienzforschung, die mittlerweile an vielen öffentlichen Einrichtungen, so auch an der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe vertreten ist, ist darauf ausgerichtet, genau diese Geschichte der Objekte, ihre Herkunft und ihre Eigentumswechsel herauszufinden und nachzuvollziehen. Damit hebt sie ein Stück unsichtbare oder vergessene Vergangenheit ins gegenwärtige Bewusstsein. Vorrangig geht es in der Provenienzforschung an der Kunsthalle Karlsruhe in historischer Verantwortung darum zu ermitteln, ob Werke der eigenen Sammlung zu dem sogenannten „NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgut“ gehören. Die Recherche verzweigt sich dafür in mehrere Richtungen und bezieht sich im Wesentlichen auf Werke, Eigentümer*innen und kontextuelle Sachverhalte.
Der NS-Verfolgung waren in erster Linie Juden und Jüdinnen ausgesetzt, sie wurden gemeinsam kategorisiert und ihrer individuellen Menschenwürde beraubt. Die Einzelschicksale in den jüdischen Familien sind durch den historischen Kontext der Verfolgung, der in das Erinnern oder die individuelle Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte vielfältig hineinwirkt, miteinander verbunden.
Kunstwerke jüdischer Eigentümer*innen wurden unter dem NS-Regime auf der ideologisch konstruierten Grundlage der menschenverachtenden rassistischen Gesetze des Nationalsozialismus beschlagnahmt oder gezwungenermaßen veräußert und gelangten teilweise auf verschlungenen Wegen auch in öffentliche Sammlungen.
Eine Aufgabe der Forschung besteht darin, solche Fälle zu ermitteln, geschehenes Unrecht aufzudecken, mit den rechtmäßigen Erben und Erbinnen verfolgter Eigentümer*innen Kontakt aufzunehmen und gemeinsam eine faire und gerechte Lösung für den Verbleib der betreffenden Kunstwerke zu finden.
In den meist recht aufwendigen Verfahren der Provenienzforschung ereignet sich mehr als die objektbezogene Arbeit. Sie kann beispielsweise zu einer stückweisen Wiederherstellung des verloren geglaubten Wissens um das Leben jüdischer Kunstbesitzer*innen oder -sammler*innen, manchmal in unmittelbarer Nachbarschaft, führen. Die begleitende Dokumentation einer Recherche soll verhindern, dass ihr Leben und ihre Bedeutung dem Vergessen anheimgegeben werden, und helfen, in der Forschung zu weiteren Erkenntnissen zu kommen. Die Wiederentdeckung solcher Biografien führt dazu, dass wir uns der einstigen kulturellen Vielfalt sogar in unserer Nähe bewusst werden können. Es ist die Chance zu erkennen, dass die uns prägende Umgebung viel facettenreicher und anregender war und wieder sein könnte, als wir sie bisher zu kennen glaubten.
Und in besonderen Glücksfällen ist es im Zuge der Ermittlung von Erben und Erbinnen gelungen, dass durch die Verfolgung zerstreute Familienmitglieder überhaupt wieder voneinander erfuhren. Über den Bezug zu einem Objekt, das seine Identität auch über seine Geschichte erhielt, ließen sich einstige Familien wieder zusammenführen, die zu dieser Geschichte gehören.