Dr. Leonie Beiersdorf und Dr. Dorit Schäfer, 28. Juni 2020

„Kultur als Luxusgut“. Zur Wiederkehr eines Irrtums

Vor wenigen Wochen haben wir an der Kunsthalle entschieden, nach den Lockerungen der Kontaktbeschränkungen nicht zum business as usual zurückzukehren.

Stattdessen werden wir die gesellschaftlichen Folgen der Corona-Krise kritisch begleiten und insbesondere den Begriff der Systemrelevanz in den Mittelpunkt einer  spontanen Ausstellung stellen, die ab 30.6. zu sehen sein wird.

„Systemrelevanz“ erweist sich als Wertungskriterium mit erheblichem sozialem Spaltungspotenzial. Der Begriff droht nachhaltig in das öffentliche Bewusstsein einzusickern. Er bedeutet eine Ohrfeige für zahlreiche Branchen, in hohem Maße aber für alle Kulturschaffende, deren Leistungen reduziert werden auf den Wert eines Puddingteilchens. Schon schreibt Dirk Peitz in der ZEIT, „einer der großen Reize“ der Kultur läge in ihrer „totalen Überflüssigkeit […]. Die Schönheit eines Kunstwerks, ob es temporär ist wie ein Theaterabend und ein Konzert oder bleibend wie eine Fotografie, bringt einem mitunter absolut nichts bei, ethisch, moralisch, intellektuell.“

Solch ignorante Behauptungen befeuern die Verteilungskämpfe etwa um das gigantische Hilfspaket der Bundesregierung. Dabei nützen die 9000 Euro-Soforthilfen für Solo-Selbständige Kulturschaffenden kaum, denn die Gelder sind in den meisten Bundesländern vollumfänglich betriebsgebunden einzusetzen, beispielsweise für Mieten von Ladenlokalen. Der von zu Hause arbeitende Graphikdesigner, die Nachwuchs-Malerin im Wohnzimmer-Atelier oder der Opernsänger, dessen Bühnenauftritte ausfallen, haben keine solchen Belastungen, sehr wohl aber Krankenversicherungsbeiträge und Lebensmittel für die Familie zu bezahlen. Vielen wird nichts anderes übrigbleiben, als Grundsicherung zu beantragen. Diese strukturellen Mängel sind seit Wochen bekannt, Nachbesserungen schleppen sich hin. Soll das die „Neue Normalität“ darstellen?

Die Abbildung zeigt Goyas Federzeichnung "Ein Mann trägt einen Toten". Der Tragende ist gebückt und hat den Toten wie einen Sack auf seinem Rücken.

Der Gedanke, Kultur sei nur ein Luxusprodukt – nett, aber verzichtbar, wird auch nach 70 Jahren noch irrtümlich abgeleitet von Abraham Maslows Bedürfnispyramide. Vereinfacht ausgedrückt müssten dem sozialpsychologischen Modell zufolge zunächst physiologische und Sicherheitsbedürfnisse erfüllt sein, bevor Menschen auch soziale und individuelle Bedürfnisse und schließlich ihre Selbstverwirklichung anstrebten. Kunst und Kultur werden hierbei der obersten und somit letzten Bedürfnisstufe zugeordnet.

Maslow hatte als Wissenschaftler versucht, individuelle Handlungsmotivationen zu ergründen – keineswegs ging es ihm um normative Wertungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Er vernachlässigte jedoch die situative Abhängigkeit unserer Handlungen und Urteile von ihren Rahmenbedingungen. Gerade in Krisenzeiten versichern wir uns dessen, was uns ausmacht. Das geht weit über die rein physische Bedürfnisbefriedigung hinaus und bringt die Bedürfnisse von Seele und Geist in den Fokus.

Nicht jedes Kunstwerk muss sich einer Aufgabe unterwerfen, eine solche Erwartung wäre ein Zeichen von Unfreiheit. Doch ist es das Privileg der Kultur, gerade auch in Zeiten des Umbruchs die großen Menschheitsfragen zu reflektieren und künstlerisch zu transformieren – ethisch, moralisch und intellektuell. Die Ausstellung „Systemrelevant?“ vereint exemplarisch herausragende Kunstwerke, denen dies gelingt. Denn künstlerische Diskurse verhandeln nicht nur dass, sondern vor allem, wie wir leben.