Dr. Sebastian Borkhardt, 12. Februar 2021

#MeinBlauerReiter

1911 riefen Wassily Kandinsky und sein Freund Franz Marc den Blauen Reiter ins Leben. Ein Meilenstein in der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts. Ein Aufbruch – der inzwischen vielleicht zu sehr Gewohnheit geworden ist.

Ich beschäftige mich gern mit Kunst, die ihr Publikum herausfordert. Bei deren Anblick sich einem zuerst die Stirn in Falten legt, die weniger bestätigt als irritiert. Eine Zumutung im besten Sinne. Das Schaffen Wassily Kandinskys (1866–1944) und Franz Marcs (1880–1916) scheint nicht unbedingt in diese Kategorie zu gehören – nicht mehr. Marcs farbenfrohe Tiere wie die Drei Pferde am Waldwasser (1913) erfreuen sich in weiten Kreisen großer Beliebtheit. Sie sind gefällig. Zugegeben: Auch in meiner Wohnung weiden Pferde von Marc, freilich nur auf einem Poster.

Und Kandinsky? Wie alte Bekannte grüßen seine Motive von den Wänden so mancher guten Stube oder Zahnarztpraxis. Seine Improvisation 13 (1910) zählt zu den Highlights der Kunsthallen-Sammlung. Und doch macht das Gemälde seine Betrachter*innen sprachlos. Ein Bild, scheinbar ohne Gegenstand: Was soll man dazu sagen? Damit geht es den Menschen heute ähnlich wie denen vor über 100 Jahren. Aber die Reaktionen sind andere, weil sich auch die Sehgewohnheiten und Wertmaßstäbe verändert haben. Dass dem so ist, liegt nicht zuletzt an Kandinskys und Marcs Einsatz: Entschieden traten sie für ihre neuen Ideen ein. Mit Erfolg, trotz aller Widerstände.

Beim Schreiben meiner Doktorarbeit interessierte mich die Frage, wie man Kandinskys Abstraktion zu seiner Zeit in Deutschland begegnete. Als die Augen des Publikums noch nicht daran gewöhnt waren, als die meisten solche Kunst noch für befremdlich hielten. Die – neben Ignoranz – simpelste Form der Antwort fand ein Kritiker des Hamburger Fremdenblatts. 1913 ließ er sich über die „überlebensgroße Arroganz“ Kandinskys aus, dessen Bilder nichts weiter seien als „Pfuscherei“ und „Idiotismus“, ein „Farben- und Formenwahnsinn“. Auf diese Weise meinte der Autor, „diesen Russen Kandinsky rasch und ohne Aufregung erledigen [zu] können“ (hören Sie auch den nationalen Ton?). So klang Hate Speech im deutschen Kaiserreich.

Ausschnitt aus Franz Marcs Pferde am Waldwasser. Das Bild ist bunt abstrakt gestaltet.

Erledigt sind Kandinsky und Marc keineswegs, im Gegenteil. Ich möchte Werken wie der Improvisation 13 und den Drei Pferden am Waldwasser aber wünschen, dass man in ihnen zumindest ein Stück weit auch das sieht, was sie bei ihrer Entstehung waren: etwas Unerhörtes, ein radikaler Bruch mit gängigen Vorstellungen von einem Bild. Etwas, um das gerungen werden musste. Und schließlich: Etwas, das mehr sein will als Form und Dekoration, das eine tiefere Botschaft für uns hat. Marc selbst sprach von Symbolen, „die auf die Altäre der kommenden geistigen Religion gehören“. – Für die einen eine Offenbarung, für die anderen Betrug. Im Lichte dieser Auseinandersetzungen lässt sich die Bedeutung des Blauen Reiters erst ermessen.

Dieser Beitrag ist im Rahmen der Blogparade #MeinBlauerReiter von Michael Stacheder entstanden.