Prof. Dr. Pia Müller-Tamm, 30. September 2022

Sammeln heute

Über die Bedeutung, die Entwicklung, die Lücken und die Perspektiven musealer Sammlungen

Museales Sammeln

Die Sammlung der Kunsthalle Karlsruhe ist ein über Jahrhunderte gewachsener lebendiger Organismus von Kunstwerken, an dem viele Generationen von Kunstliebhaber*innen und Museumsverantwortlichen gearbeitet haben und künftig arbeiten werden. Museales Sammeln ist Arbeit an der „Vergangenheit der Zukunft“ (Philip Fisher). In der heute existierenden Sammlung spiegelt sich die Sammelleidenschaft der Markgrafen und -gräfinnen sowie der Großherzöge von Baden und der Museumswissenschaftler*innen aus annähernd fünf Jahrhunderten. Das Konvolut von annähernd einhunderttausend Werken ist „die Basis […] und das beständigste Element“ der Museumsarbeit, so formuliert es die derzeit maßgebliche Ankaufskonzeption der Kunsthalle. In ihr sind die Kriterien festgelegt, nach denen Ankaufsentscheidungen in Abstimmung mit dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst und anderen musealen Institutionen des Landes Baden-Württemberg getroffen werden. Trotz der sich wandelnden Sammelstrategien ist der Kunstbestand des Museums heute relativ klar strukturiert: Er umfasst europäische Kunst vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart mit Schwerpunkten bei der deutschen, insbesondere der oberrheinischen bzw. der badischen Kunst, sowie der niederländischen und der französischen Kunst in den Medien Malerei, Grafik und Skulptur.

Was fehlt?

Kein Museum kann heute enzyklopädisch sammeln; bei Erwerbungen geht es nicht primär darum, „Sammlungslücken“ zu schließen. Museales Sammeln bedeutet immer Auswahl, Konzentration, Schwerpunktsetzung. Auf diese Weise entwickelt sich ein spezifisches Sammlungsprofil, das in sinnvoller Aufgabenteilung mit den Museen in der näheren Umgebung gepflegt werden sollte. Das über Jahrhunderte gewachsene Sammlungsprofil der Kunsthalle ist das Resultat vieler historischer Entscheidungen, die jedoch bis heute nachwirken. Wir können diese Entscheidungen in ihrem jeweiligen Kontext nachvollziehen, sehen aber von heute was, was fehlt. So ist die Sammlung der Kunsthalle europäisch geprägt, aber Europa ist hier gleichbedeutend mit Westeuropa; darin zeigt sich die Vernachlässigung der Kunst des europäischen Ostens – ein fast durchgängiges Defizit der Kunstmuseen in Deutschland. Auch in der Medienfrage wurden historische Vereinbarungen lange tradiert: Malerei und die grafischen Künste sind die Leitmedien der Sammlung; die Fotografie wurde wie in den allermeisten deutschen Kunstmuseen ignoriert. Zeitgenössische Kunst zählt seit der Gründung des Museums 1846 zum Sammelauftrag; sie lässt sich aber nicht mehr auf die „alten“ Medien Malerei, Skulptur und Grafik einschränken. Dies verlangt eine Reflexion und eine begründete Öffnung der Medienfrage. Schließlich das Defizit aller älteren Kunstmuseen: Es fehlen die Künstlerinnen. Etwa 95 Prozent der Werke des Museums wurden von männlichen Künstlern geschaffen, eine historisch begründete Einseitigkeit, die gerade mit Blick auf die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts nicht mehr zu rechtfertigen ist. Um die Sammlung als lebendigen Organismus zu erhalten und sie unter heutigen Gesichtspunkten weiterzuentwickeln, braucht es von Zeit zu Zeit neue „Mitspieler“ in der Sammlung. Durch sie lassen sich vertraute Konstellationen aufbrechen, durch sie wird die Sammlung neu erlebbar.

Zwei junge Frauen betrachten Paul Gauguins Gemälde Häuser in Le Pouldu

Museum und Markt

Mit dem Ankauf durch ein Museum wird ein Kunstwerk dauerhaft dem Markt entzogen; nur in seltenen Ausnahmen kommt es hierzulande zu Abgaben oder Verkäufen aus Museumssammlungen. Aber Museum und Markt sind deshalb keine getrennten Sphären, vielmehr stehen sie in einem dauerhaften Austausch miteinander. Die Sammlungskurator*innen beobachten den Markt, prüfen die Angebote des internationalen Kunsthandels, besuchen die großen Kunstmessen, und sie machen Atelierbesuche oder erhalten gezielt Offerten von Galerien, die die bestehende Sammlung sinnvoll ergänzen können. Die Museen sind also gefragte Marktteilnehmer, denen der Handel besondere Rabatte gewährt. Aber Ankaufsentscheidungen sind keine einsamen Entscheidungen von Expert*innen. Jedes für den Ankauf erwogene Werk wird zunächst einer intensiven hausinternen Prüfung unterzogen. Dabei ist die Expertise der Kurator*innen, der Restaurator*innen, der Provenienzforscher*innen gefragt. In den meisten Fällen kommt das erwogene Kunstwerk zur Ansicht ins Museum und wird in Kontext der bestehenden Sammlung erprobt. Wenn ein Werk oder eine Werkgruppe für den Ankauf interessant ist, dann gilt es, die mitentscheidenden Gremien zu überzeugen, sei es das Ministerium und die Ankaufskommission, die über die Mittel des Landes entscheidet, oder der Förderkreis der Kunsthalle. Schließlich ist es das kritische Urteil der Öffentlichkeit, dem sich jeder museale Ankauf, jede Neuerwerbung und jede Schenkung bewähren muss.

Sammeln kostet …

Museales Sammeln im Auftrag der Öffentlichkeit setzt den politischen Willen der Träger und engagierte Partner voraus. Für Erwerbungen stehen den staatlichen Museen des Landes Baden-Württemberg die Mittel der Museumsstiftung (Spielcasinoabgabe) und des Zentralfonds (Lotto-Mittel) zur Verfügung. Oft müssen Finanzierungsallianzen mit öffentlichen oder privaten Stiftungen wie der Kulturstiftung der Länder oder der Ernst von Siemens Kunststiftung geschlossen werden. Weitere Ankaufsmittel des Ministeriums kommen Künstler*innen und Galerien des Landes Baden-Württemberg zugute. Wichtiger Partner der Kunsthalle ist auch der Förderkreis, der seine Erwerbungen dem Museum als Dauerleihgaben zur Verfügung stellt. Immer wieder nimmt die Kunsthalle auch Schenkungen von Künstler*innen oder aus Privatbesitz in die Sammlung auf. Doch alle Sammlungszugänge müssen sich denselben kritischen Prüfungen der Qualität, des konservatorischen Zustands und der Provenienz stellen.

Oberlichtsaal der Kunsthalle Karlsruhe mit einem langen Gang an dessen Wänden Kunstwerke hängen.

Neues Sammeln

Museale Sammlungen sind nicht mehr unumstritten. So beansprucht die Öffentlichkeit heute zu Recht Aufklärung über die Herkunft der Kunstwerke. Provenienzforschung ist mittlerweile eine Kernaufgabe des Museums; verfolgungsbedingt entzogene Kunstwerke, insbesondere aus ehemals jüdischem Besitz, werden an die rechtmäßigen Eigentümer bzw. an deren Nachkommen restituiert. Daher wird jede Neuerwerbung auf ihre Herkunft hin geprüft. Museen sind öffentliche Einrichtungen, die die Bürger*innen mit ihren Steuermitteln finanzieren. Aber die Diversität der bundesrepublikanischen Gesellschaft bildet sich nicht in den künstlerischen Positionen der Sammlung ab. Neue Sammlungsstrategien sind erforderlich, damit das Museum seinem Auftrag als Einrichtung „für möglichst viele“ gerecht wird. Auch die Ankaufskonzeption der Kunsthalle Karlsruhe sollte sich in diesem Sinne kontinuierlich weiterentwickeln, denn die Sammlung wird zunehmend wichtiger: Museumsarbeit steht heute im Zeichen von Nachhaltigkeit. Die Sammlung ist eine wertvolle  Ressource, die dauerhaft zur Verfügung steht. Leihgabentransporte für Ausstellungen, so wichtig sie für die museale Forschung und das Kunstpublikum sind, gefährden das Kulturgut, sind kostspielig und mit hohen Emissionen verbunden. Die Sammlung ist die Batterie, die der Museumsarbeit dauerhaft und ressourcenschonend neue Energien zugeführt.