Dr. Dorit Schäfer

Digitale Möglichkeiten in der Zeichnungsforschung – eine Teamarbeit

Fast neun Jahre sind vergangen, seitdem sich im Kupferstichkabinett der Kunsthalle Karlsruhe ein spektakulärer Fund ereignete. Die Ergebnisse der interdisziplinären Forschung wurden nun in einer Datenbank mit explorativem Ansatz veröffentlicht.

Seit der Neuzuschreibung von rund 300 Zeichnungen an die römische Werkstatt von Giovanni Battista Piranesi (1720-1778) im Jahr 2014 hat sich viel getan. Stetig wachsen die Onlinesammlungen der Museen, durch die ihre Bestände auf eine völlig neue Art sichtbar und – zumindest virtuell – erfahrbar werden können. Auch Werke, die zuvor nur einem kleinen Kreis von Spezialist*innen bekannt waren, sind heute weltweit, jederzeit und von jeder Person mit Internetzugang zu betrachten und zu studieren. Die Corona-Pandemie steigerte zudem die Bereitschaft, digital miteinander zu kommunizieren und – alleine vor dem heimischen Bildschirm – mit einer großen Gruppe Bilder zu teilen, sie gemeinsam zu untersuchen und über sie zu diskutieren, ganz egal, ob man sich in New York, Paris oder Karlsruhe befindet. Bei ausreichend hoher Auflösung der Abbildungen kann man sogar zusammen in ein Werk zoomen und kollektiv Dinge entdecken, die sich analog vor dem Original und unter dem Mikroskop lediglich einer einzigen Person erschließen würden. Das sind nur einige der vielen Beweggründe, weshalb wir uns bei der Aufbereitung der Ergebnisse des DFG-geförderten Forschungsprojektes für die Publikation als Datenbank mit explorativem Ansatz entschieden haben.

Teamarbeit damals wie heute

In der traditionellen Zeichnungsforschung haben sich kennerschaftliche Autoritäten, mit speziellem Fachwissen zu einzelnen Künstlern, meist individuell ausgebildet: zwischen Original und Forscher*in. Natürlich tauschte man sich in Fachkreisen aus, sowohl persönlich als auch schriftlich – in allen großen Sammlungen haben sich auf den Passepartouts oder Kartonträgern die zarten Bleistiftkommentare von Expert*innen mit ihren Zuschreibungen und Verweisen zu den jeweiligen Originalen erhalten. Diese handschriftlichen Vermerke von berühmten Kunsthistoriker*innen aus verschiedenen Zeiten sind ein großer Schatz und durchaus berührend, wenn man die Werke analog studiert. Methodisch scheinen die sich durch digitale Publikationsformen ausbreitenden Sammlungskenntnisse jedoch eher kollaborative Arbeitsformen zu unterstützen. Das ist eine ausgesprochen demokratisierende Methodenentwicklung, die neue Ideen, Interessen, Perspektiven und Fragestellungen generiert. Innovation erfolgt dabei nicht mehr nur durch eine Einzelperson als vielmehr im Team, das im Idealfall in einem gleichberechtigten Austausch seine Vorstellungen, Gedanken und Anregungen entwickelt.

Ein Titan der Kunstgeschichte: Giovanni Battista Piranesi

In der Entstehung unserer Datenbank zu den Zeichnungen aus Piranesis Werkstatt war und ist dieser Teamgedanke in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: Die Blätter selbst stammen aus der Werkstatt eines der großen Titanen der Kunstgeschichte: Giovanni Battista Piranesi war eine wegweisende und bis heute vielfach rezipierte Autorität in der Gattung der Romansichten und der Antikendarstellungen, aber auch der Architekturfantasien und der Kunst der Radierung. Mehr als tausend gedruckte Darstellungen stammen von diesem außergewöhnlichen Künstler, der neben seiner Tätigkeit als Druckgrafiker und Verleger auch Archäologe, Antikenhändler, Architekt und Architekturtheoretiker war. Seine künstlerische Genialität und sein Ideenreichtum waren überragend. Laut seines ersten Biografen Jacques-Guillaume Legrand (1753-1807) äußerte sich der Künstler einst selbst über seine überbordende Kreativität: „Ich muss neue Ideen hervorbringen, und ich glaube, wollte man mir den Plan eines neuen Universums auftragen, ich wäre Narr genug, ihn zu entwerfen.“

 

Abbildung einer Architekturphantasie mit Brücken und Triumphbögen von Giovanni Battista Piranesi.

Teamarbeit – im 18. wie im 21. Jahrhundert

Doch bei aller individuellen Schöpferkraft: Natürlich konnte er diese gewaltige Produktion nicht alleine stemmen! Natürlich brauchte er dafür ein Team, das ihm Motive und Vorlagen lieferte, die seine Imagination anregten und die er weiter verwertete. Und hier kommen die Karlsruher Blätter ins Spiel: Die meisten zeigen antike Architekturreliefs, ornamentale Details oder Studien nach römischen Plastiken, von mehreren Mitarbeitern Piranesis manchmal direkt nach den antiken Monumenten abgezeichnet. Viele Blätter weisen Spuren von unterschiedlichen Kopier- und Pausverfahren auf, die uns heute erahnen lassen, wie zahlreich und geschäftig die Gruppe an Zeichnern und Zeichnerinnen (Piranesis Tochter Laura, geboren wohl um 1755 und gestorben im Jahr 1785, war auch dabei) in Piranesis Werkstatt gewesen sein muss. In einem Zeitalter vor der Erfindung der Fotografie waren die Künstler*innen erfinderisch in ihren Methoden zur Vervielfältigung und Übertragung von Motiven. Auf den Blättern tragen sowohl die unterschiedlichen Strichbilder, Linienführungen und Beschriftungen als auch die verschiedenen Papiere, Ölflecken, Stecknadellöchlein oder Griffelspuren zahlreiche Informationen, die nicht nur von einem großen Arbeitskollektiv aus dem 18. Jahrhundert erzählen, sondern heute in einer engen Zusammenarbeit von Forscher*innen der Kunstgeschichte und der Restaurierung ausgewertet worden sind. Denn Inhalt und Material sind in diesen Objekten untrennbar miteinander verwoben, erst ihre gemeinsame Betrachtung enthüllt die Entstehungs- und Nutzungsgeschichte der Blätter. Teamarbeit – im 18. wie im 21. Jahrhundert!

Für die Forscher*innen sind diese gemeinsamen Untersuchungen spannend, ja regelrecht beglückend und tragen erheblich zum gegenseitigen Erkenntnisgewinn bei. Doch befinden wir uns in einem Museum, das sowohl zu einer Veröffentlichung seiner wissenschaftlichen Forschungen verpflichtet ist als auch zu einer Publikationsform, die nicht nur für Expert*innen interessant ist. Und es ist ein inspirierender Prozess, zu überlegen, wie die eigene Faszination an einem sehr speziellen Thema, das auch in der Fachwelt abseits des Mainstreams liegt, auf andere übertragen werden kann – wie der Funke überspringen könnte…

Herausforderungen in der vielschichtigen Vermittlung

Die Objekte waren eine Herausforderung: Großformatige, etwas abgegriffene und fleckige Bände, ausgeschnittene und wieder eingeklebte Zeichnungen, ornamentale, sich ähnelnde Motive, die für sich genommen erst einmal keine Geschichte erzählen. Nur im Kontext vermag sich die Vielfalt ihrer Bedeutungsebenen erschließen. Daher galt es auch hier, in einer Teamarbeit Lösungen zu finden! Externe und interne Kolleg*innen aus dem Forschungsprojekt und mehrere Abteilungen der Kunsthalle (Sammlung und Wissenschaft sowie Kommunikation mit u.a. Digital Management) feilten gemeinsam an einer Präsentationsform der Datenbank, die sowohl den wissenschaftlichen Standards als auch dem Vermittlungsauftrag des Museums gerecht werden musste – und dabei natürlich den finanziellen Rahmen nicht sprengen durfte.

So beginnt der Einstieg mit einem kurzen Clip, der das Blättern durch eines der beiden großen Alben zeigt und so den (nicht immer einfachen) Umgang mit den analogen Objekten vermittelt. Beim Hinunterscrollen ist das Eintauchen in unsere Bände über drei Zugänge möglich: die Einzelwerke, Highlights oder Essays. Mit einem Klick gelangt man zu einem Überblick über alle enthaltenen Zeichnungen, die zahlreiche Wissensebenen enthalten: Technische Angaben und umfassende Analysen aus der Kunstgeschichte und der Materialtechnologie ermöglichen in klarer inhaltlicher Ordnung eine vertiefte Lektüre zu jedem einzelnen Blatt, wobei die jeweilige Position einer Zeichnung innerhalb des Klebebandes rasch ermittelt werden kann. Über ein Buchsymbol gelangt man zu den aufgeschlagenen Albumseiten, durch die digital geblättert werden kann, um sich einen generellen Eindruck über den Inhalt beider Bände zu verschaffen. Für jede Doppelseite und jede einzelne Zeichnung wurde darüber hinaus ein kurzer Teasertext verfasst. Dieser hält zu Erscheinung und/oder Inhalt des Gesehenen einige Informationen bereit, die auch ohne Fachwissen verständlich sind. Wo kam ein Relief her, wer hat auf das Blatt geschrieben, was sind das für Flecken, was ist eine Soffitte? Zu vielen Fachbegriffen wurde zudem ein Glossar erarbeitet. In die hoch aufgelösten Abbildungen kann hineingezoomt werden, so dass viele mit dem bloßen Auge kaum zu erkennende Spuren deutlich zu sehen sind – und schließlich werden zu jedem Blatt mindestens sieben unterschiedliche Aufnahmen angeboten: Neben dem normalen Auflicht und dem Durchlicht (in dem z. B. Wasserzeichen im Papier erkennbar sind) wurden unter verschiedenen Wellenlängenbereichen des elektromagnetischen Spektrums sogenannte multispektrale Bilddaten erzeugt, die Unterschiede zwischen den Materialien und historische Gebrauchsspuren sichtbar machen können. Der schnelle Wechsel zwischen diesen Aufnahmen verdeutlicht nicht nur, was bei einer gewöhnlichen Beleuchtung einer Zeichnung oft unsichtbar bleibt, sondern macht auch einfach Spaß. Wissenschaftliche Forschung und spielerischer Zugang verbinden sich zu unerwarteten Erkenntnisgewinnen. Weitere explorative Zugänge bieten auf jedem Einzelblatt die Mikroskop-Buttons: Sie führen zu Hotspots, die zusätzliche Informationen zu vergrößerten Ausschnitten bieten – eine Griffelspur, eine korrigierte Linie, ein besonderes Motiv… Last but not least: Ihre individuellen Kommentare – ehemals in Bleistift auf den Passepartouts – können die Expert*innen wie auch alle Kunstinteressierte für jedes Blatt digital abgeben, und kommentiert von der Redaktion erscheinen auch diese für alle sichtbar im Netz.

Foto des Klebebands 1, der zugeschlagen auf einer erhöhten Unterlage liegt.

Unsere Datenbank begann als Idee und entstand mit dem Wissen, der Erfahrung und der Arbeitskraft vieler externer und interner Kolleg*innen aus verschiedenen Fachbereichen. Ihre zahlreichen Funktionen und die in ihr enthaltenen, umfangreichen Forschungsergebnisse hätten in einer oder mehreren gedruckten Publikationen nicht abgebildet werden können. Erst die digitale Publikationsform macht diese in vielerlei Hinsicht besonderen Zeichnungen aus der Werkstatt Piranesis und das über sie entstandene Wissen allen Interessierten auf unterschiedliche Weise zugänglich. Zudem kann und soll die Datenbank auch zukünftige Erkenntnisse aufnehmen und ein Austauschforum bleiben: für alle – allein oder im Team.

Jetzt die Datenbank In Piranesis Werkstatt – Die Karlsruher Alben entdecken!