Ein Glücksfall der jüngeren Sammlungsgeschichte
Sammlungsleiter Prof. Dr. Holger Jacob-Friesen über die Erwerbung der Pastellbildnisse Louise Geneviève und Joseph-Nicolas-Pancrace Royer von Jean-Marc Nattier.
Zu den schönsten Momenten in meiner Tätigkeit als Museumskurator gehört es, wenn ich bedeutende Werke in das Gemäldeinventar der Kunsthalle eintragen darf. Das geschieht wie eh und je handschriftlich. Zwar dauert es nie lange bis eine Neuerwerbung in die wissenschaftliche Datenbank Imdas und die Sammlung Online auf unserer Website aufgenommen wird, doch der Eintrag in das dicke Inventarbuch ist ein juristischer Akt und hat etwas Erhebendes: Durch ihn wird der Übergang eines Werkes in das Eigentum der Kunsthalle vollzogen. Bei den Porträts der Eheleute Royer, zwei zusammengehörenden Pastellen von der Hand des Rokokomalers Jean-Marc Nattier, geschah dies im Jahr 2021 nicht gleichzeitig, sondern im Abstand einiger Monate. Das kam so:
Schon vor gut zehn Jahren war ich eingeladen, eine bedeutende deutsche Privatsammlung zu besichtigen. Ich sah dort zum ersten Mal das Bildnis des Pariser Komponisten Joseph-Nicolas-Pancrace Royer, das einen großen Eindruck auf mich machte. Nattier, der führende Porträtist unter König Ludwig XV., schuf es um 1745/50. Es zeigt, wie Royer an der Oper Zaïde, seiner berühmtesten Komposition, arbeitet. Die Partitur ist so genau wiedergegeben, dass man die Stelle, eine Arie der Titelheldin, identifizieren kann. Hinter dem Schreibtisch erkennt man ein Cembalo – das Instrument, das Royer mit besonderer Virtuosität spielte. Darauf liegt eine Geige mit zugehörigem Bogen. Royer jedoch versenkt sich nicht in die Musik, sondern blickt auf. Für einen Moment tritt er in Austausch mit seinem Gegenüber. Das macht dieses Bild so ansprechend: Kein pompöses Gehabe, keine Ehrfurcht heischende Pose, sondern der Ausdruck von Dialogbereitschaft im Sinne der Aufklärung: offen, sympathisch, ohne Dünkel.
Es war mir gleich klar, dass dieses Bild eine wundervolle Ergänzung für unsere Karlsruher Sammlung französischer Malerei wäre. Umso erfreulicher, als sich nach einigen Jahren diese Aussicht ergab: Die Eigentümer hielten in ihrem Testament fest, dass das Nattier-Gemälde der Kunsthalle als Vermächtnis zugehen solle. Im Herbst 2020 allerdings ergaben sich neue Umstände, denn auf dem Kunstmarkt tauchte das Gegenstück auf, das Bildnis der Louise Geneviève Royer.
Mehr als zweihundert Jahre waren die beiden Porträts zusammengeblieben, zunächst bei den Nachkommen der Dargestellten, dann in wechselndem Privatbesitz. 1930 wurden sie vom bolivianischen Unternehmer Antenor Patiño (1896-1982) erworben. Der als „Zinnkönig“ bekannte Patiño galt zeitweise als reichster Mann der Erde. Nach dessen Tod besaß sein Neffe Jaime Ortiz-Patiño die Bilder für einige Zeit, verkaufte sie dann aber, und zwar separat: Über die Kunsthandlung Kugel in Paris gelangte das Porträt des Mannes in die deutsche Privatsammlung, dasjenige der Ehefrau hingegen wurde 1992 vom Auktionshaus Sotheby´s versteigert. Für viele Jahre hing es in den schlossartig eingerichteten Räumen einer noblen Hochhauswohnung in Manhattan. Eigentümer waren der irakisch-amerikanische Bankier Ezra Zilkha (1925-2019) und seine Frau Cecile. Mit Blick auf das uns ins Haus stehende Vermächtnis hatte ich mich über einen vermittelnden Experten an Zilkha gewandt und gefragt, ob er nicht bereit wäre, das Bildnis der Madame Royer an uns zu veräußern und damit auf längere Sicht die Wiedervereinigung der Porträts zu ermöglichen. Dieser Vorstoß hatte zwar zunächst keinen Erfolg, doch erhielt ich bald nach dem Tod Zilkhas die Nachricht, dass seine gesamte Sammlung, so auch das begehrte Nattier-Bild, in New York versteigert werden solle. Damit blieb einige Zeit, um sich vorzubereiten. Mein großer Wunsch war es, dass Madame für dieselbe Privatsammlung erworben würde, in der sich Monsieur bereits befand und dass beide einmal in der Karlsruher Kunsthalle ihr endgültiges Zuhause finden würden.
Die große Zilkha-Auktion fand am 20. November 2020 bei Sotheby´s in New York statt. Für den Erwerb war von den privaten Sammlern ein stattlicher Betrag zur Verfügung gestellt worden. Ein Münchner Kunsthändler erhielt den Auftrag, bis zu diesem Limit mitzubieten. Doch ob die Summe reichen würde, war keineswegs gewiss. Mit großer Anspannung und roten Ohren verfolgte ich die Auktion live über Internet. Ich erlebte, wie Stück um Stück verkauft wurde – zu Preisen, die teilweise erheblich über den Schätzwerten lagen. Schließlich kam Lot 194, das Bildnis der Madame Royer, zum Aufruf. Es folgte ein kleines Bietgefecht, das jedoch kurz vor dem gesetzten Limit endete – der Kauf war geglückt!
Das Beste kam nun: Louise Geneviève Royer reiste auf Wunsch der Erwerber direkt zu uns nach Karlsruhe, und ich durfte sie in das Inventarbuch einschreiben! Unsere Gönner besichtigten das Bild in unseren Sammlungsräumen, die damals wegen der Corona-Pandemie für die Öffentlichkeit geschlossen waren. Sie waren so hingerissen wie ich selbst: Louise Geneviève Royer erscheint in prachtvoller Kleidung. Ihre Corsage ist mit Perlen und künstlichen Blumen geschmückt. Zahlreiche dunkelblaue Rüschen und Schleifen zieren das Cape aus hellblauer, changierender Seide und den Kopfputz über der feingelockten und weiß gepuderten Frisur. Die eleganten weißen Handschuhe sind, wie damals üblich, an den Fingerkuppen geöffnet. Madame Royer bricht, so scheint es, zu einem Ball auf. Darauf verweisen die schwarze Maske der Komödie, die sie in ihrer rechten Hand hält und der Fächer in ihrer linken. Doch bevor sie ihr Gesicht verbergen wird, wirft Madame Royer einen freundlichen Blick auf die Betrachterinnen und Betrachter. Mit feinem Gespür und technischer Brillanz hat Nattier ihre vornehme und attraktive äußere Erscheinung ebenso wiedergegeben wie ihren aufgeschlossenen Charakter.
Einige Wochen später erhielt ich das Signal unserer Mäzene, man wolle die Wiedervereinigung des Ehepaars vorantreiben und der Kunsthalle deswegen auch Monsieur, und zwar unverzüglich, schenken. Was für eine Freude! Wir holten das Pastell mit dem Kunsthallen-Transporter ab, und ich machte einen weiteren Eintrag ins Inventarbuch.
Schon 2018 hat der Pastellkenner Neil Jeffares die beiden Bilder „magnificent“ und „certainly Nattier´s masterpieces in this medium“ genannt. Davon konnten wir uns nun überzeugen und – nach Ende des Corona-Lockdowns – endlich auch die Öffentlichkeit. Beide Werke sind sehr gut erhalten und verfügen zum Glück über ihren ursprünglichen, aufwändig geschnitzten und vergoldeten Rahmen. Am 26. Oktober 2021 fand im Feuerbachsaal der Kunsthalle zur Feier der Erwerbung und zur Ehrung unserer Wohltäter ein Konzert mit dem Cembalisten Kristian Nyquist statt, der Werke von Joseph-Nicolas-Pancrace Royer spielte, darunter Stücke aus Zaïde. Den Höhepunkt bildete der berühmte, dem Musiker höchstes Können abfordernde „Skythenmarsch“. Nun warten die Bilder auf ihren Abtransport, denn die Kunsthalle wird saniert und umgebaut. Ab Frühjahr 2023 werden sie im ZKM, wo die Kunsthalle ihre wichtigsten Werke präsentieren darf, wieder für die Allgemeinheit zu sehen sein.