Dr. Sebastian Borkhardt, 23. Juli 2021

Was uns blüht

Nach über einjähriger Wartezeit ist es endlich so weit: Die Kunsthalle eröffnet die infolge der Pandemie verschobene Ausstellung „Inventing Nature – Pflanzen in der Kunst“. Ein Aufatmen.

Eine idyllische Flusslandschaft, überwölbt von einer gigantischen Kuppelarchitektur. Eine faszinierende Vision, so schön wie verstörend. Nicht ohne Grund bildet die 2004 entstandene Fotomontage Kitka River des finnischen Künstlers Ilkka Halso das Titelmotiv der Ausstellung Inventing Nature – Pflanzen in der Kunst: Das Werk legt den Zwiespalt in unserem Verhältnis zur Natur offen, die wir existenziell benötigen, die uns mit ihren Wundern in Staunen versetzt – und die wir dennoch so stark gefährden, dass sie vielleicht einmal nur noch mithilfe solch schützender Konstruktionen zu überleben vermag.

Halsos Arbeit gibt aber auch Anlass, um über die Konstruiertheit des Naturbegriffes selbst nachzudenken. Beschleicht einen vor Kitka River deshalb so leicht ein Unbehagen, weil die Natur hier ihrer Natürlichkeit entledigt scheint? Aber wo hört Natur auf? Dort, wo menschliche Kultur beginnt? Steht Menschengemachtes außerhalb der Natur, ist es aus ihr hervorgegangen und über sie hinausgewachsen – oder doch immer Teil von ihr? Oder ist umgekehrt die Idee von „Natur“ am Ende eine Erfindung und damit Teil der Kultur?…

Abbildung des Werks "Kitka River" von Ilkka Halso

Inventing Nature lädt allerdings nicht bloß zu kritischer Hinterfragung ein. Die Schau vereint Werke aus der historischen Sammlung der Kunsthalle mit zeitgenössischen Positionen und erzählt Geschichten von Abhängigkeit und Aneignung, Herrschaft und Zerstörung, aber auch von Entdeckerlust und Fantasie, Ehrfurcht und Magie, von Abstraktion und Einfühlung. Die Ausstellung feiert die Diversität, den Ausdruck, die Sinnlichkeit und Erfindungskraft, die Kunst und Natur gemeinsam sind. Sie beleuchtet die mannigfaltigen Zugänge zu Pflanzen in der Kunst über fünf Jahrhunderte hinweg.

Bereits Ende Mai 2020 hätte Inventing Nature eröffnet werden sollen. Hätte. Die Präsentation der inhaltlich so gut wie abgeschlossenen Blütenlese wurde aufgrund der Coronakrise verschoben. Das Ausstellungsthema legte indessen noch an Bedeutungsgewicht zu: Nicht nur wurden Verbindungen zwischen dem ökologischen Versagen unserer Zeit und dem Auftauchen des Virus hergestellt. Auch flüchteten sich viele, die die Möglichkeit dazu hatten, in die tröstenden Arme von Mutter Natur. Ich gehörte zu ihnen – und folgte den Worten der Dichterin Hilde Domin: „Vertraue dich dem Obstbaum an.“

Die Beschäftigung mit Pflanzen in der Kunst ließ mich Landschaft und Vegetation in meiner Umgebung neu wahrnehmen. Mit der Kamera meines Handys versuchte ich das bizarre Linienspiel kahler Äste, die plastische Qualität schneebedeckter Nadelbäume und die sprießenden Farben des Frühlings festzuhalten. Näheres Hinsehen führte zur feineren Unterscheidung und zu Einsichten in botanische Zusammenhänge – Erfahrungen, die wiederum meinen Blick auf unsere Ausstellung formten. Hatte ich Hans Thomas Ölstudie Gräser zwischen Felsen von 1863 bislang kaum Beachtung geschenkt, so begann ich eine ungeahnte Sympathie für das Werk zu empfinden: unscheinbare Gewächse, die der Maler für wert befand, im Bild bewahrt zu werden. Gewiss werden auch manche Besucher*innen von Inventing Nature mit einer neuen Sensibilität an die Exponate herantreten und sie in einem anderen Licht betrachten als sie es noch vor einem Jahr getan hätten.

Landschaftsgemälde von Hans Thoma, das zwei Felsen zeigt, zwischen denen Gräser wachsen

Die Ausstellungsvorbereitungen gingen während der Monate der Planungsunsicherheit weiter. So wurden in regem Austausch mit dem Naturkundemuseum und dem Botanischen Garten dreizehn Hochbeete entwickelt, die seit diesem Juni das Bild der Karlsruher Innenstadt prägen: Als Botschafter für Inventing Nature und die Begleitausstellung Iss mich! Obst und Gemüse in der Kunst der Jungen Kunsthalle künden sie von dem engen Band zwischen Natur und Kunst. Endlich waren die ersten Früchte unserer Arbeit sichtbar!

Mitte Juli hielten wir dann den gedruckten Katalog in unseren Händen – und atmeten auf. Welche Erleichterung auch, als wir in den vergangenen Wochen beim Aufbau in den Galerieräumen das stetige Wachsen der Ausstellung erlebten. Dass sie nun der ursprünglichen Konzeption entsprechend stattfinden kann, ist nicht zuletzt den Künstler*innen und Leihgeber*innen zu verdanken, die unser Vorhaben trotz wiederholt angepasster Laufzeit weiterhin unterstützten.

Durch die Verlegung auf den Sommer 2021 wurde Inventing Nature zur Jubiläumsausstellung: Mit ihr begeht die Kunsthalle in diesem Jahr ihren 175. Geburtstag – bevor das Hauptgebäude wegen der anstehenden Sanierung für mehrere Jahre geschlossen wird. Wer auf dem Weg zur Ausstellung im repräsentativen Treppenhaus seinen Blick durch dieses Gesamtkunstwerk des Architekten Heinrich Hübsch schweifen lässt, wird vielleicht feststellen, dass Pflanzen bei der dekorativen Ausgestaltung des Baus reichlich Anregungen geliefert haben. Es empfiehlt sich, vor der Schließung auch hier den Spuren Floras einmal nachzuspüren.