Geschätzt, zerteilt und wiedervereint
Nicht immer sieht man einem Gemälde sofort an, was es im Lauf der Jahrhunderte alles durchlebt hat, bis es eines Tages – sorgfältig gereinigt, gefestigt, mit schützendem Firnis versehen und hinter Glas gerahmt – in einem angenehm kühl temperierten Saal neben anderen Meisterwerken seinen Platz einnimmt. Zur sichtbaren und unsichtbaren Geschichte eines der heimlichen Schätze der Kunsthalle: Die Felslandschaft mit Nomadenfamilien von Cornelis Dalem und Jan van Wechelen.
Spuren einer Trennung
Dämmerstimmung herrscht in der kleinen Landschaft, die der Antwerpener Künstler Cornelis van Dalem wohl um 1570 erdacht hat. Eine mächtige Felsformation beherrscht die linke Hälfte des Gemäldes, während sich rechts ein Ausblick in eine bewaldete Ferne öffnet. Die zahlreichen Personen, die die Landschaft bevölkern, wurden von Jan van Wechelen, van Dalems Künstlerkollegen, ins Bild gesetzt. Die Männer, Frauen und Kinder gehen unterschiedlichsten Tätigkeiten nach: ein Mann erklimmt eine steile Leiter, deren Fortsetzung aus dem Bild herauszuführen scheint; einige der Anwesenden sind in Gespräche vertieft; eine Frau entlaust ein Kleinkind. Ganz rechts wird ein Stück Wild ausgeweidet, daneben lecken Hunde Blut. Und wer ganz genau hinsieht, kann auch die beiden Jungen erspähen, die am Rande im Schatten eines großen Baumes kauern und sich erleichtern.
Unübersehbar aber ist der senkrechte, einige Millimeter breite Spalt, der nicht nur einem Herrn mit beeindruckendem Vollbart die rechte Hand vom Arm abtrennt, sondern der die gesamte Bildfläche in zwei Hälften teilt. Offensichtlich ist das Gemälde in der Vergangenheit nicht immer mit Samt- oder gar – wie im Umgang mit Kunstwerken heute üblich – weißen Baumwollhandschuhen angefasst worden – die Spuren deuten klar darauf hin, dass hier einmal jemand ganz rabiat mit einer Säge zu Werk gegangen ist!
Aus Eins mach… viele!
Was uns heute kaum vorstellbar erscheint, war früher eine durchaus übliche Vorgehensweise: da sich mit dem Verkauf von mehreren kleinen Kunstwerken wohl mehr Geld verdienen ließ als mit einem großen, wurde die Eichenholztafel irgendwann von einem uns unbekannten Händler zersägt und die Bildhälften einzeln weiterverkauft. Dieses Schicksal ereilte über die Zeit zahlreiche Gemälde, selbst Kirchenaltäre waren nach ihrer Ausmusterung vor diesem Los nicht gefeit. Ein weiteres Beispiel hierfür ist Hans Baldung Griens Gemälde Lot und seine Töchter, zerteilt in die ältere Tochter, den trinkenden Lot und das brennende Sodom – unbekannt ist, wo sich die fehlende zweite Tochter heute befindet, die ursprünglich rechts neben ihrem Vater zu sehen war.
Dabei ist man keineswegs immer so roh mit der Felslandschaft umgegangen. Aus kunsthistorischer Sicht besonders spannend ist die Tatsache, dass wir den Aufbewahrungsort des Bildes zu Beginn des 17. Jahrhunderts kennen. Das ist durchaus etwas Besonderes, denn nicht von jedem Werk eines alten Meisters sind so weit zurückreichende Kenntnisse der Herkunft überliefert. Mit viel Spürsinn und etwas Glück lassen sich Einträge in alten Versteigerungskatalogen finden, oder die Nennung im handschriftlichen Inventar eines Nachlasses. Doch die Karlsruher Felslandschaft hatte sogar das Privileg, selbst in einem bedeutenden Gemälde dokumentiert zu werden.
Aus gutem Hause
1628 malte der Künstler Willem van Haecht die Kunstsammlung des Kaufmanns Cornelis van der Geest in Antwerpen. Das Werk zeigt einen großen Saal, der bis unter die Decke mit Kunst gefüllt ist und in dem sich eine erlesene Gesellschaft versammelt hat. Die anwesenden Damen und Herren sind allesamt von Rang und Namen: vorne links präsentiert der Kunstsammler Cornelis van der Geest dem vor ihm sitzenden, regierenden Statthalterpaar der südlichen Niederlande – Erzherzog Albrecht von Österreich und Infantin Isabella Clara Eugenia von Spanien – stolz sein Madonnenbild von Quentin Massys. Um sie herum und im Raum verteilt stehen zahlreiche weitere adlige Zeitgenoss*innen, hohe Würdenträger*innen, Kunstsammler*innen und Künstler, darunter auch Peter Paul Rubens und Anton van Dyck.
Ebenso hochkarätig wie die anwesenden Besucher*innen ist die ausgestellte Kunst: die Werke der berühmtesten Künstler*innen sind hier versammelt. An jeder freien Wandfläche des Saales hängen kleine und große Gemälde, weitere Bilder stehen auf dem Boden. Hinzukommen große Marmorskulpturen, kleine Bronzeplastiken, Zeichnungen, Münzen, Porzellan und wissenschaftliche Instrumente – der Raum scheint schier aus allen Nähten zu platzen. Viele der Bilder sind uns auch heute noch bekannt; einige von ihnen haben sich in den großen Gemäldegalerien erhalten, darunter zum Beispiel die berühmte Amazonenschlacht von Peter Paul Rubens (heute in der Alten Pinakothek in München). Und ganz oben unter der Decke, frontal und fast unverstellt, hängt sie, die Karlsruher Felslandschaft – nur die Spitze des Kerzenleuchters ragt ein wenig in den blauen Himmel.
Moment – in den blauen Himmel? Ja, in der Tat: Willem van Haechts gemalte Wiedergabe zeigt, dass die Karlsruher Landschaft ursprünglich bedeutend größer gewesen ist. Die sich in der linken Bildhälfte auftürmenden Felsen waren einst bewachsen, der Leiternsteiger war wohl auf dem Weg zu der schiefen Hütte, deren Dach zu sehen ist. Und auch der hohe Laubbaum rechts und die hier eher exotisch anmutende Palme erschienen zuvor in ihrer vollen Pracht. Minutiös hat der Maler zahlreiche Details des Gemäldes wiedergegeben – jedoch ließ er durchaus großzügig künstlerische Freiheit walten, was die Größenverhältnisse anging. Vergleicht man die Felslandschaft mit einigen anderen, noch erhaltenen Bildern (zum Beispiel mit der Amazonenschlacht von Rubens), so ist festzustellen, dass die Karlsruher Tafel fast doppelt so groß erscheint, wie sie in Realität war. Andere, signifikant größere Werke wiederum wurden sichtlich verkleinert. Dies deutet darauf hin, dass Künstler und Auftraggeber besonderen Wert darauf gelegt haben, möglichst viele Schätze der Sammlung in dem Gemälde unterzubringen und diese zudem klar wiedererkennbar abzubilden.
Verloren… und wiedergefunden
40 Jahre nach der Entstehung des Gemäldes Die Sammlung des Cornelis van der Geest in Antwerpen ist die Felslandschaft noch einmal archivalisch (wohl unversehrt) nachweisbar: im Katalog der Sammlung von Pieter Stevens in Antwerpen, die 1668 versteigert wird. Dann verliert sich ihre Spur. Wann die Eichenholztafel zersägt wurde, ist unbekannt. Erst in den 1930er Jahren werden die lange Zeit an unterschiedlichen Orten aufbewahrten unteren Fragmente als zusammengehörig erkannt.
Doch was passierte mit der oberen Bildhälfte, nachdem das Gemälde zersägt worden war? In die linke Ecke mit der Hütte auf den Felsen malte wohl kurz nach der Zerteilung ein unbekannter Künstler eine Szene mit der Versuchung des heiligen Antonius – mit dieser religiösen „Zugabe“ ließ sich auch dieses Stück noch verkaufen. Bekannt ist, dass sich das Fragment in der Mitte des 20. Jahrhunderts in einer Mailänder Privatsammlung befunden hat. Was seitdem mit ihm geschah oder wo es sich heute befindet, wissen wir nicht. Die rechte obere Ecke wurde sehr wahrscheinlich entsorgt: zu uninteressant war der verbliebene Ausschnitt, der nur den wolkenverhangenen Himmel mit einigen Baumkronen zeigte.
Eine Mischung aus Glück und Zufall sorgte dafür, dass die beiden unteren Bildhälften der Landschaft schließlich in die Kunsthalle Karlsruhe gelangten: 1964 erwarb man die rechte Hälfte des Bildes aus dem deutschen Kunsthandel. Nur wenige Jahre später, im Herbst 1970, konnte auch das linke Felsenfragment aus einer New Yorker Privatsammlung angekauft werden. Die zuvor jahrhundertelang getrennte Nomadengesellschaft hängt seitdem – glücklich wiedervereint, sorgsam konserviert und neu gerahmt – in der Sammlung der Kunsthalle. Und der Herr mit dem schwarzen Vollbart hat endlich seine rechte Hand zurück.
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