Thomas Frank, 28. Dezember 2021

Lilli Fischel – Kämpferin für moderne Kunst

Karlsruhe entwickelte sich in den 1920er Jahren zu einer Keimzelle für moderne Kunst. Dazu trugen auch viele jüdische Kulturakteur*innen bei. Eine von ihnen war Lilli Fischel. Kulturjournalist Thomas Frank über das Leben und Wirken dieser besonderen Person.

Sie war die erste Chefin der Karlsruher Kunsthalle und engagierte sich für zeitgenössische Kunst – entgegen massiver Proteste. Dank ihr lassen sich auch etliche weitere jüdische Kulturspuren in der Kunsthalle und in der Fächerstadt entdecken. Bis die Nationalsozialisten an die Macht kamen und sie gehen musste. Doch Lilli Fischel kehrte wieder an die Kunsthalle zurück. In diesem Jahr hätte sie ihren 130. Geburtstag feiern können.

„Erschießung“ einer Kunst-Jury

Vor dem Hauptportal der Kunsthalle Karlsruhe hat sich eine Meute mit Gewehren und Pistolen versammelt. Sie richten ihre Waffen auf fünf Personen, die sich vor dem Museum befinden, hinter ihnen hängen Gemälde. Lilli Fischel, erste Chefin der Karlsruher Kunsthalle, liegt schon erschossen auf dem Boden. Ihre Augen sind verbunden, ein Grab wurde für sie ausgehoben. Neben ihr stehen der Maler Albert Haueisen, der Bildhauer Christoph Voll und der Kunstwissenschaftler Karl Wulzinger. Der Maler und Fischels späterer Gegner Hans Adolf Bühler sinkt bereits zusammen. Die Anführer des Exekutionskommandos sind drei Künstler: August Gebhard, Adolf Luntz und Emil Firnrohr.

Erschießung der Jury der Selbstbildnisausstellung nennt sich die Zeichnung, von Künstler Emil Spuler 1930 angefertigt für die Zeitschrift ZAKPO, einer „Monatsschrift für Zeitkunst, Zeitbetrachtung, Satire und Karikatur“ in Karlsruhe. Hintergrund: In der Ausstellung „Staatlicher Wettbewerb: Selbstbildnisse badischer Künstler“, 1930 veranstaltet von der Kunsthalle Kunsthalle und dem Badischen Kunstverein, wurden drei Preise für Malerei an die fortschrittlichen Künstler Willi Müller-Hufschmid, Wilhelm Martin und Wladimir Zabotin vergeben. Das missfiel dem politisch rechten „Reichsverband bildender Künstler Deutschlands, Gau Südwestdeutschland“. Ihre Kritik: Klüngelei zwischen Jury und Prämierten, zu viel Ehre für moderne Kunst. In Spulers Zeichnung rächen sich die unberücksichtigten Künstler an den Preisrichter*innen. Er prophezeite damit bedrohliche Entwicklungen im Karlsruher Kulturbetrieb, mit denen auch Lilli Fischel zu kämpfen hatte: Konservative Künstler mit völkisch-nationaler Gesinnung fuhren immer aggressivere Attacken gegen fortschrittliche Künstler*innen und, Museumsleiter*innen.

Lilli Fischel: ein Faible für fortschrittliche Kunst

Ob Vincent Van Gogh, Gustave Courbet, Max Liebermann oder Edvard Munch – ihre Gemälde erschütterten die konservative Kunstwelt ihrer Zeit. Schonungslos schilderten sie soziale Missstände, enthüllten seelische Freuden und Qualen oder fingen in freier Natur alltägliche Lichtstimmungen und Farbeffekte ein. Das war zu viel für die Verfechter der Salonmalerei, die Mythen, literarische Geschichten oder historische Ereignisse auf ihre Leinwände bannten – in Farben, Licht und Schatten perfekt inszeniert, wirklichkeitsnah, wie auf einem Foto.

Lilli Fischel, von 1927 bis 1933 erste Leiterin der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (damals Badische Kunsthalle), kaufte die Bilder jener modernen „Skandalkünstler“ nach und nach an und organisierte Ausstellungen – etwa zu Van Gogh oder Christoph Voll. Sie verwandelte den angestaubten Kunsttempel in ein Museum am Puls der Zeit. Die altmodischen Kulturakteur*innen in der Fächerstadt reagierten mit Unmut, Protesten und Anfeindungen. Sie hingen noch am Akademiestil des 19. Jahrhunderts, feierten immer noch Hans Thoma, den „Lieblingsmaler des deutschen Volkes“. Thoma förderte als Professor an der Großherzoglichen Kunstschule und als Direktor der Karlsruher Kunsthalle lokale Künstler, die seinen Malstil weiterführten.

Lilli Fischel wurde als Luise Fischel 1891 in Bruchsal geboren. Ihr Vater stammte aus einer jüdischen Familie, ihre Mutter erzog sie und ihre drei älteren Geschwister evangelisch. Lilli machte Abitur am Humanistischen Gymnasium in Karlsruhe, studierte dort Kunst, dann Philosophie, Kunstgeschichte und Archäologie in Frankfurt am Main und in Freiburg im Breisgau. Sie machte sich zu einer Kunstexpertin mit großer Bandbreite: von oberrheinischen Skulpturen, Malereien und Glasmalereien des Spätmittelalters über Grafiken des 15. und 16. Jahrhunderts bis hin zum französischen Impressionismus. Ebenso arbeitete Fischel im Kunsthandel und tauchte so in die Arena des Kunstmarkts ein. 1925 kam sie an die Kunsthalle Karlsruhe: als wissenschaftliche Hilfsarbeiterin, dann wurde sie Kuratorin, schließlich Direktorin – allerdings nur kommissarisch, eine offizielle Ernennung blieb aus.

Wie die Kunsthalle ein „Museum für alle“ wurde

Fischel folgte auf Willy F. Storck, der 1927 bereits mit 38 Jahren verstorben war. Storck hatte 1920 Hans Thoma als Kunsthallen-Chef abgelöst. Mit ihm leitete zum ersten Mal ein Kunstwissenschaftler das Museum, kein Künstler. Storck krempelte das Haus um, machte es moderner und publikumsfreundlicher. Er wollte keinen elitären Kunsttempel, sondern ein Museum für alle Bevölkerungsschichten. Also ordnete Storck die Sammlung neu, legte einen Schwerpunkt auf die badische Kunstentwicklung, sorgte für eine attraktive Präsentation der Werke und betrieb eine aktive Ankaufspolitik: Künstlerisch unbedeutende Depotbestände veräußerte er und kaufte dafür Meisterwerke von Künstlern am Oberrhein: vom Meister der Karlsruher Passion über Hans Baldung Grien bis hin zu Karlsruher Vertretern der Neuen Sachlichkeit, etwa Georg Scholz, Rudolf Schlichter oder Wladimir von Zabotin. Die Antimodernen tobten. Sie fühlten sich benachteiligt. Ihre Vorwürfe: Unter Storck verkomme die Kunsthalle zu einem Bezirksmuseum. Zudem verfolge er eine illegale Ankaufspolitik ohne Zustimmung des Landtags.

„Ohne Moos nichts los“ – jüdische Kulturspuren in der Stadt

Die Künstler Scholz, Schlichter und Zabotin entfachten bereits früher den sogenannten „Expressionismusstreit“ in Karlsruhe. Sie hatten 1919 die „Gruppe Rih“ mitbegründet, die, inspiriert von Dadaismus, Futurismus und Expressionismus, für eine avantgardistische, fortschrittliche Kunst kämpfte. Das „Café Rih“ im Badischen Kunstverein Karlsruhe an der Waldstraße 3 erinnert an die provokationslustige Künstlervereinigung. Zu sehen waren ihre Arbeiten in der jüdischen Galerie Moos. 1914 von den Brüdern Friedrich und Iwan Moos ins Leben gerufen, übten sie großen Einfluss auf die Karlsruher Kunstszene aus. „Ohne Moos nichts los“ hieß es damals in der Stadt. Die Geschwister Moos betrieben ihre Galerie samt Postkartenverlag in der Kaiserstraße 96 (heute Modefiliale Breuninger), später in der Kaiserstraße 187 (heute Modegeschäft Calzedonia). Die Avantgarde-Gegner, prominent angeführt von den Malern und Thoma-Schülern Hans Adolf Bühler und August Gebhard sowie dem Kunstkritiker Adam Röder, schmähten die expressionistischen Werke als dilettantisch, unsittlich und geisteskrank.

Abbildung von Georg Scholz Selbstbildnis vor der Litfaßsäule
Selbstbildnis vor der Litfaßsäule – Georg Scholz (1926)

Der jüdische sozialdemokratische Politiker und Kunstmäzen Ludwig Marum hingegen verteidigte die Expressionisten gegenüber der politischen Rechten sogar im Badischen Landtag. Ihm widmete Karlsruhe die Ludwig-Marum-Straße, die von der Weststadt nach Mühlburg führt. Marum war mit Willy F. Storck und vielen Künstler*innen in Karlsruhe befreundet, darunter der jüdische Maler und Grafiker Gustav Wolf, den 1918 wiederum die jüdische Galerie Moos mit einer Einzelausstellung würdigte. Auch Lilli Fischel hatte mit Gustav Wolf zu tun: Sie beauftragte ihn 1932 mit einem Deckenfresko für den Bibliothekssaal in der Karlsruher Kunsthalle. Wolf hatte es gerade noch vollendet, während Hans Adolf Bühler, seit März 1933 neuer Leiter des Museums, unter dem Titel „Regierungskunst 1918-1933“ eine der ersten nationalsozialistischen „Schandausstellungen“ veranstaltete. Sie geriet zum unrühmlichen Vorbild für weitere Diffamierungsdarbietungen und gipfelte in der Schau Entartete Kunst in München. Gustav Wolf verließ danach Deutschland und floh in die Schweiz, dann nach Italien und Griechenland. Im Zweiten Weltkrieg wurde sein Deckenfresko zerstört. Von Gustav Wolf finden sich das Ölgemälde „An der Zitadelle in Kairo“, „Zehn Holzschnitte“ in der Online-Sammlung der Karlsruher Kunsthalle – ebenso eine Porträtbüste aus Stuck, die der Bildhauer Otto Schneider von ihm anfertigte.

Fischels Kampf für ein Museum am Puls der Zeit

Als Lilli Fischel an die Kunsthalle kam und später deren Leitung übernahm, geriet sie automatisch in einen „Kulturkampf“ zwischen progressiven und konservativen Kunstmilieus. Sie führte Storcks Erbe konsequent fort. Ihr breit gefächertes Wissen von der Kunst des Mittelalters bis hin zur Moderne konnte sie in der Kunsthalle ideal einsetzen, umfasst die Sammlung ja Kunst aus neun Jahrhunderten. Fischel erweiterte sie um wichtige mittelalterliche Malereien vom Oberrhein und um Gemälde der Kunstavantgarde – auch Georg Scholz und Rudolf Schlichter, die „Malerrebellen“ der „Gruppe Rih“ waren wieder dabei.

Über einen Ankauf erzürnten sich die Avantgarde-Verächter aber besonders: das Familienbild von Hans von Marées, einem Maler des Idealismus. Es zeigt die Ruhe der heiligen Familie auf ihrer Flucht nach Ägypten. Beim Brand des Münchner Glaspalasts im Juni 1931 wurde Moritz von Schwinds Gemälde Ritter Kurt’s Brautfahrt zerstört, woraufhin die Badische Kunsthalle eine Versicherungssumme von 40 000 RM erhalten hatte. Lilli Fischel setzte sich dafür ein, von dem Geld Marées Familienbild zu erwerben. Der jüdische Oberregierungsrat Siegfried Weissmann kaufte es schließlich für die Kunsthalle. Preis: 55 000 RM. Daraufhin starteten modernefeindliche Karlsruher Künstler und Zeitungen gegen Fischel und Weissmann eine wüste Hetzkampagne. Sie forderten, dass die Kunsthalle lieber Bilder von badischen Künstlern kaufen sollte.

Ende einer Ära: Lilli Fischel flieht nach Paris

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Fischel als Direktorin der Kunsthalle entlassen. Zunächst wegen der Förderung zeitgenössischer Kunst. Nachträglich wegen ihrer „nichtarischen Abstammung“ – inzwischen war das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen worden. Fischel emigrierte nach Paris, arbeitete dort für den Kunsthändler Paul Tiocca. Doch in Frankreich geriet sie in finanzielle Not und nach dem Einmarsch der Nazis drohte ihr die Internierung. Deswegen kehrte sie 1939 nach Deutschland zurück. Da Fischel trotz jüdischer Abstammung scheinbar nicht direkt bedroht war, entging sie den Deportationen. So schlug sie sich von 1940 bis Ende 1951 als Kunsthändlerin und Autorin kunstwissenschaftlicher Texte durch – in den Kriegsjahren vermutlich anonym.

Rückkehr an die Kunsthalle

Kunsthallen-Direktor Kurt Martin holte Fischel 1952 wieder an die Kunsthalle zurück, wo sie als Hauptkonservatorin und Leiterin des Kupferstichkabinetts arbeitete. In dieser Zeit erwarb sie die Tafel Die Entkleidung Christi aus einem Passionszyklus des sogenannten Meisters der Karlsruher Passion, einem oberrheinischen Maler der Spätgotik. Im Mai 1956 verabschiedete sich Lilli Fischel in den Ruhestand, veröffentlichte aber weiterhin kunstgeschichtliche Texte. Im Dezember 1978 starb sie in Karlsruhe an den Folgen eines Verkehrsunfalls.

Entkleidung Christi
Entkleidung Christi – Meister der Karlsruher Passion (um 1450/55)