Dr. Dorit Schäfer, 28. Januar 2022

Von Wickelboxen, Stülpdeckeln und Rastnasen oder wie man ein Kupferstichkabinett umzieht

Die Pforten sind zu, viele Säle stehen leer. Anblicke, die uns traurig stimmen, denn nun gilt es Abschied zu nehmen. Aber für Sentimentalitäten haben wir kaum Zeit!

Büros, Bibliothek, Werkstätten und vor allem die Depots werden gesichtet, aufgeräumt und verpackt, um sie in die Interimsräumlichkeiten zu transportieren, die umgebaut, klimatisiert und für die Sammlungen eingerichtet werden müssen. Ein ganzes Museum in der Größe der Karlsruher Kunsthalle umzuziehen, das ist eine Herausforderung für sich.

Und eine Chance: Denn der Umzug bietet uns die Gelegenheit, unsere Bestände neu zu betrachten, in versteckten Ecken schlummernde Mappen zu öffnen, Unverzeichnetes zu inventarisieren und Aufbewahrungen zu überdenken – und gegebenenfalls zu erneuern. Dabei ist vieles anregend, einiges berührend, und hier und da auch ziemlich komisch.

Das Kupferstichkabinett der Kunsthalle umfasst etwa 90.000 Einzelwerke – Zeichnungen, Aquarelle, Druckgrafiken und illustrierte Bücher. Hunderte von Kassetten und Mappen aus unterschiedlichen Zeiten dienen uns heute als Behältnisse für die kostbaren Blätter. Im 19. Jahrhundert wurden die Kassetten zum Teil mit handgefertigtem Marmorpapier beklebt und in goldenem Prägedruck beschriftet. In schönster Handschrift mit Feder geschriebene Inventarlisten erzählen uns von ihrem Inhalt, der immer wieder umgelagert wurde. Doch diese „alten Schachteln“ sind durch ihre über hundertjährige Nutzung sehr mitgenommen, bisweilen brechen sie auseinander. Auch ihre Materialien genügen heutigen konservatorischen Ansprüchen nicht mehr. Viele müssen daher ausgetauscht werden, doch verbleiben diese wunderschönen Kassetten als kostbare Dokumente der Sammlungsgeschichte im Bestand.

Zwei ältere Kassetten aus dem Kupferstichkabinett mit Gebrauchsspuren.

Knapp 180 historische Behältnisse wurden in Vorbereitung unseres Umzugs durch neue Verpackungen ersetzt. Dabei haben wir darauf geachtet, dass sich die neuen, maßgefertigten Kassetten dem historischen Erscheinungsbild der Sammlung einfügen. Daher sind sie mit hellbraunem und dunkelgrünem Einbandstoff bezogen, einem „Eurobuckram“ in den Farben „Almond“ und „Cedar“. Dieses Buchbinderleinen kennt man bisweilen auch aus Kreuzworträtseln, in denen die Bezeichnung „Kaliko“ gesucht wird, benannt nach seinem Herkunftsort, der indischen Stadt Kalikut (heute Kozhikode) am Arabischen Meer. Die Farbechtheit dieses strapazierfähigen Gewebes sollte man zunächst prüfen, was wir mit kleinen Wasserproben auch getan haben. Materialien, die für Kunst- und Archivgut verwendet werden, müssen normalerweise sowieso den sogenannten „Oddy-Test“ bestehen – benannt nach dem englischen Restaurator William Andrew Oddy, der von 1966 bis 2002 am Britischen Museum in London tätig war. 1973 entwickelte er eine Prüfung für die Verträglichkeit von Materialien, die in Kontakt mit musealen Objekten treten – in Vitrinen, Schränken oder Verpackungen.

Aus dem Britischen Museum stammt auch eine andere, für Archive, Bibliotheken und Kupferstichkabinette wichtige Aufbewahrungsform: Die sogenannte Solander-Box, eine edle und sehr schöne Aufbewahrungsform. Sie ist nach dem schwedischen Botaniker Daniel Carlsson Solander (1733-1882) benannt, der u. a. an der ersten Weltumsegelung von James Cook in den Jahren 1768 bis 1771 teilnahm und später neben seinen Forschungstätigkeiten auch als Bibliothekar am Britischen Museum war. Die Solander-Box ist eine stabile Klappkassette aus Holz oder Karton in Form eines Buches, bezogen mit Stoff oder Leder. In ihr werden vor allem Papiere aufbewahrt – Bücher, Dokumente oder Grafiken. Eine andere Kassettenform ist nach der Albertina benannt, der großartigen grafischen Sammlung in Wien. Die meisten Behältnisse, aus denen wir wählen durften, tragen heute jedoch sehr viel prosaischere Namen:

Klappschachteln, mit oder ohne sichtbare Einsteckschlitze, Wickelboxen, zweiteilige Stülpdeckelboxen, glattwandig durch Faltkonstruktion, mit doppelter, dreifacher oder vierfacher Wandstärke, mit oder ohne ausklappbarer Seitenwand am Unterteil, Faltschachteln, mit oder ohne Griffmulden, Füßchen oder Textilzugschlaufen, mit Papageiensteckung oder in Krempelfalttechnik, mit Grafikbetten oder Puzzleverbindungen (welche durch einen Schneid-Rill-Plotter sehr genau zugeschnitten und durch Mehrfachwellen und Wabenplatten zusätzlich stabilisiert werden), Stülpboxen mit innenliegenden, spiralgewickelten Hülsen, Jurismappen (auch Dreiklappenmappen oder Aktenumlegemappen genannt, manchmal mit dem Eigennamen „Voltaire“!), Schuber, Stehsammler mit und ohne Stehhilfen – da musste ich mich erstmal setzen…

Das Bild zeigt ein Aufbewahrungsbehältnis für Werke des Kupferstichkabinetts im Rahmen der Umzugsvorbereitungen

Wichtig ist: Alle diese Behältnisse erfüllen folgende Voraussetzungen: Der verwendete Karton ist aus 100 % gebleichter Cellulose ohne Verwendung von Recyclingfasern oder verholzten Fasern. Seine Kappa-Zahl liegt unter 5, d.h. er ist ligninfrei. Sein pH-Wert liegt bei 7,5 – 10,0, nach ISO 6588-1:2020 ist er also säurefrei und hat einen Alkalipuffer von über 3 % des natürlichen Calciumcarbonats (GCC). Die Leimung ist neutral/synthetisch (ohne Zusatz von Alaun) und nach Cobb60 unter 25 g/m² sowie ohne optischen Aufheller. Die Lichtechtheit liegt bei 7 – 8 (= vorzüglich) nach Wollskala (DIN EN ISO 105-B02) und es gibt kein Ausbluten nach DIN ISO 16245:2012. Er hat den Photographic Activity Test (PAT) nach ISO 18916:2007 bestanden, der Kaschierleim besteht aus Dispersionsklebstoff, der frei von Lösemitteln und Weichmachern ist (mit einem pH-Wert von etwa 7,0).

Diese Qualität entspricht den Normen: DIN EN ISO 9706 (Information und Dokumentation – Papier für Schriftgut und Druckerzeugnisse – Voraussetzungen für die Alterungsbeständigkeit), DIN ISO 16245 – Typ A (Information und Dokumentation Schachteln, Archivmappen und andere Umhüllungen aus zellulosehaltigem Material für die Lagerung von Schrift- und Druckgut aus Papier und Pergament), sowie NF Z 40-014 (Anforderungen und Kriterien für die Auswahl von Papier und Pappe zur Erhaltung von Dokumenten auf Papier und Schriftrollen ANSI/ NISO Z.39.48 American National Standard for Permanence of Paper for Publications and Documents in Libraries and Archives) und DIN 6738:2007 (höchste Lebensdauerklasse LDK 24-85).

Uffh.

Für die Karlsruher Konvolute (aus dem lateinischen „convolutum“ = Zusammengerolltes, meint eine Anzahl von Schriftstücken oder – in unserem Fall – von Kunstwerken auf Papier) haben wir aus diesen Modellen ausgewählt: 104 individuell auf unsere Bedürfnisse hergestellte Kassetten, die Solander-Boxen ähneln (wirklich sehr schön!), 292 verstärkte, dichtschließende Klappkassetten ohne Einsteckschlitze (die können nämlich die Tischoberflächen verkratzen), 50 Schirtingmappen mit drei Klappen und drei Paar Verschlussbändern (an jeder Seite eines), 8 Wickelverpackungen, 18 Jurismappen mit fester Füllhöhe (jeweils zwei Rillungen) sowie 22 Klappschachteln mit ringsum doppelter Wandstärke (mit „Lieferung in aufgerichtetem Zustand“).

Aber das war noch nicht alles – denn unsere kostbaren illustrierten Bücher – ein Bestand, den wir mit unserer Kunstbibliothek gemeinsam betreuen – werden nun ebenfalls in hochwertige Behältnisse gelegt: 1.371 Bücher wurden von einer Firma einzeln ausgemessen, um passgenaue Schachteln herzustellen: 882 individuelle, atmungsaktive (ja, das gibt es auch bei Kartonagen…) Klappschachteln ohne sichtbare Einsteckschlitze und 489 individuelle Wickelboxen (ebenfalls atmungsaktiv), die auf acht Paletten gestapelt ins Museum gebracht wurden – mit Beschriftungen ihres zukünftigen Inhaltes, um das Einpacken zu erleichtern.

Das Foto zeigt neue Behältnisse für die Werke des Kupferstichkabinetts, die für Umzugsvorbereitungen benötigt wurden.

Nun ist die Sammlung des Kupferstichkabinetts also gut vorbereitet auf den anstehenden Umzug in ihr neues zwischenzeitliches Zuhause. Viele Schränke – besonders das schöne historische Mobiliar aus dem Philostratensaal – können wir glücklicher Weise mitnehmen. Andere Möbel müssen nach unseren Bedürfnissen und nach den Räumlichkeiten neu konzipiert und angefertigt werden.

Da gibt es Gefachregale, Weitspannregale und Freiraumregale, mit und ohne Fädelstangen, ein System aus einzelnen Mittelpfosten, in die Kragarme eingehängt werden (wobei die Befestigung der Arme als schraublose Steckverbindung auszuführen ist, die den Mittelpfosten durchdringt und gegen versehentliches Aushängen gesichert ist). Die angebotenen Kragarme dürfen das lichte Zwischenmaß zwischen den Fachböden allerdings nicht beeinträchtigen und maximal 10 mm unter dem Fachboden überstehen. Außerdem: An der Oberseite muss der Kragarm zum Fachboden hin flächenbündig sein! Und bitte unbedingt beachten: Kragarmsysteme mit Seitenblechen erfüllen nicht die geforderten Eigenschaften!!! Und schon gar – das ist ja wohl selbstredend – Kragarme mit Rastnasen!!! Wer soll die denn bitte noch in die geschlitzten Regalrahmen einhängen?

Aber wissen Sie was? Mit all den Fachleuten und ihren Expertisen schaffen wir das schon.

Kleiner Nachtrag: Diese Woche kam das Angebot für den Kunsttransport. Das technische Equipment beinhaltet auch E-Ameise, Spinnenkran, Hubsi und Pillerwagen…