In Bitcoins investieren? Im Online-Casino um den Jackpot zocken? Mit unfassbarem Glück das große Geld machen? Eine Verlockung, der man schon vor 500 Jahren schnell erlag, doch lukrativ ist das Spiel vor allem für die Bank. Der prall gefüllte Geldsack auf einem kleinen Tisch hinter dem Amtsmann lässt daran kaum Zweifel. Dabei schwingt in seiner Aufforderung an den Neuankömmling am Spieltisch die Warnung gleich mit: „Los, Du Narr!“, ruft er sinngemäß. Eine frühe Version von „Spielteilnahme ab 18. Glücksspiel kann süchtig machen.“ – eine Warnung, die wohl oft genug auch heute ungehört verpufft.
Im „echten“ Leben hätte ein bäuerliches Fest niemals so dicht neben einem adeligen Ritterturnier stattgefunden. Aber in Mathis Gerungs Welt im Kleinen, einem echten Wimmelbild, rückt alles etwas näher zusammen.
So wird das Nachäffen der „hohen Herren“ aber besonders deutlich: Auch ohne Pferd, zu Fuß und mit Holzschwertern kann man gegeneinander antreten. Statt Pauken und Trompeten kann man sich vielleicht nur Sackpfeifen leisten, aber das scheint den Spaß nicht zu schmälern. Wobei es einen der Kämpfer ganz offensichtlich schon zum nächsten Vergnügen an den Spieltisch nebenan zieht.
Remake, Quote, Revival. Im Kreativbereich gibt es viele Möglichkeiten, bereits Vorhandenes wiederzuverwenden. Den Trick kannten selbstverständlich auch schon Künstler*innen wie Mathis Gerung. Er hat sich bei einigen seiner Vorgänger*innen bedient und für die Melancolia zahlreiche Figuren und ganze Gruppen vor allem aus der Druckgraphik „entliehen“. Unter anderem auch diese beiden Akrobaten, die einem Holzschnitt des sogenannten Petrarcameisters verdächtig ähnlich sehen.
Wer sich beim Wettschießen ein rosafarbenes Plüscheinhorn als Preis erhofft, wäre Mitte des 16. Jahrhunderts wohl bitter enttäuscht worden: Silberpokale und -kannen sowie feiner Stoff für Hosen galten den schicken Städtern und Adligen mit gerafften und geschlitzten Gewändern als größerer Anreiz, sich mit Pfeil und Bogen ins Zeug zu legen. Die Trophäe könnte übrigens eine wichtige Rolle für das ganze Bild spielen. Der Hinweis versteckt sich beim zweiten Reiterwettkampf oben rechts im Bild.
Und plötzlich ist es mitten im sommerlichen Spektakel Winter geworden. Die Gegenüberstellung bäuerlicher Arbeiten wie dem Schlachten eines Schweins und adeliger Vergnügungen wie der luxuriösen Schlittenfahrt ist typisch für sogenannte Monatsbilder. Solche Abfolgen charakteristischer Tätigkeiten im Jahreslauf erfreuten sich seit dem Mittelalter großer Beliebtheit. Dass man an vielen Stellen des Bildes Anklänge daran findet, zeigt, dass es Gerung nicht um eine Momentaufnahme ging. Vielmehr zeigt er das menschliche Leben in seiner Gesamtheit, eingeschrieben in einen größeren Lauf der Dinge.
Nicht zuletzt die Flutkatastrophe 2021 hat gezeigt, dass wir auch heute nicht die Natur beherrschen. Auch wenn im 16. Jahrhundert ein anderer Begriff als Natur gebraucht worden wäre – die Vorstellung war eine ähnliche: Der Mensch ist auf Gedeih und Verderb höheren Kräften ausgesetzt.
Das eine Schiff segelt friedlich zu neuen Ufern, das nächste kentert im Sturm. In den Bau des einen Gebäudes setzen die Menschen all ihre Energie und Hoffnung, das Haus daneben wird zerstört. Doch einen gewichtigen Unterschied gibt es zu damals: Heute wissen wir, dass der Mensch selbst Mitverantwortung trägt.
Sie ist die größte Figur im ganzen Bild und gleichzeitig die rätselhafteste: die Verkörperung der Melancholie. Oder auch der Acedia, der Nachlässigkeit, der Tatenlosigkeit? Ein bisschen schwingt auch die Idee der „Frau Welt“, der „Frau Minne“ oder der Voluptas mit – alles Bilder für Sinnlich-Irdisches.
Anders als bei Dürer, der seine Vorstellung der Melancholie in einem berühmten Kupferstich festgehalten hat, ist sie hier nur durch Haltung und Kleidung ausgezeichnet. Statt vieler Gegenstände geben bei Gerung zudem die Aktivitäten rings um sie herum Aufschluss über das Temperament. Teils wurden diese Aktivitäten als typisch für Melancholiker*innen beschrieben – z. B. die Jagd oder das Glücksspiel. Teils aber auch als „Gegenmittel“, um den melancholischen Geist zu zerstreuen.
In jedem ordentlichen Wimmelbild soll etwas ganz Bestimmtes gefunden werden. In Gerungs Gemälde ist es ein kleines Detail im Hintergrund, das einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis vieler Szenen gibt: das rote Tuch an der Stange. Es ist die Trophäe, um die die Männer beim Pferderennen kämpfen. Scharlach, ein hochwertiger, „scharlachrot“ gefärbter Stoff, stand dem Sieger des Scharlachrennens zu, das bis zu den Bauernkriegen einmal im Jahr in Nördlingen stattfand. Gerung kannte diese Veranstaltung sicher gut, denn er verbrachte seine Jugend dort.
Gleichzeitig zum Pferderennen gab es andere sportliche Wettkämpfe und manchmal einen sogenannten Fräuleinlauf, eine Art Schaulaufen von Prostituierten. Im Gemälde glaubt man viele Begebenheiten eines solchen Volksfestes wiederzuerkennen, die Gerung aber gekonnt mit symbolisch aufgeladenen Szenen kombiniert hat. Das rote Tuch findet sich auch an weiteren Stellen wieder.
Gleich zwei Hinrichtungen finden hier statt: Ein Mann wird – im Beisein einiger Soldaten – enthauptet. Ein zweiter wird gehängt. Beide Strafen werden fernab des bunten Treibens im Vordergrund und abseits der Siedlung vollstreckt. Aber dennoch für alle gut sichtbar auf einem hohen Podest: Hier werden Exempel statuiert! Ob rühmlich oder in Ungnade: Der Tod ereilt am Ende jede*n. Das dürfte wohl der Hinweis des gut befüllten Friedhofes mit dem frisch ausgehobenen Gruppengrab sein.
Hinweise auf Glaube und Religion sind rar in diesem Gemälde mit seinen so weltlichen Darstellungen. Ein kleiner Bildstock, auch Marterl genannt, wie er noch heute den Weg in manch einer katholisch geprägten Gegend säumt, wirkt weniger als inhaltlicher Verweis, sondern viel stärker als malerisches Detail. Tatsächlich ist Gerungs Bild als „profanes“, also nicht für den kirchlichen Zusammenhang entstandenes, großformatiges Werk eine Seltenheit für diese Zeit.
Was der Anlass für Mathis Gerung war, dieses Bild zu malen, ist bis heute nicht wirklich enträtselt. Eine Möglichkeit wäre die Reaktion auf den Bericht eines Nürnberger Astronomen: Erasmus Flock schrieb 1558 (dem Jahr, das Gerung auf dem Gemälde verewigt hat) von einem Kometen. Ein solches astrologisches Ereignis wurde im 16. Jahrhundert noch mit Seuchen und anderen Verderben bringenden Unglücken in Verbindung gebracht. Interessant ist dabei, dass nach Flock der Komet von 1558 dem Planeten Saturn nachgeraten war, also seine Eigenschaften hatte. Umso spannender, dass Melancholiker*innen als im Zeichen des Saturn Geborene galten und Gerung die Melancholie in das Zentrum seines Bildes setzte.
In der mittleren Bildachse, eindeutig nach der Melancholie am Wichtigsten in der Aufmerksamkeit der Betrachter*innen, liegt am unteren Bildrand ein Mann. Die Figur mit Zirkel widmet sich – wie schon der Künstler mit diesem Gemälde – einer Welt im Miniaturformat: Auf einer Scheibe ist eine Weltenlandschaft zu sehen, eine Landschaft aus Versatzstücken, die quasi als Abkürzung für das gesamte denkbare Universum stehen. Ähnlich wurde im Mittelalter oft Gottvater bei der Erschaffung der Welt gezeigt. In dieser Art treten aber auch immer wieder Geometer ins Bild, also im Lateinischen wörtlich „die Erde Messende“. Nicht verwunderlich, denn die Geometrie ist eine der Wissenschaften, die man am engsten mit der Melancholie verknüpft sah.
Wartende Prostituierte, begierige bürgerliche Freier, wohltätige Ordensfrauen, weltmännische Amtsmänner, vergnügungssüchtige Adelige, schuftende Bauern, diensteifrige Soldaten, bestohlene Versehrte – im „Garten des Lebens“ sieht man nicht nur allerhand vergebliches Treiben des Menschen, sondern auch einen großen Ausschnitt der damaligen Gesellschaft. Und zwischen allem der Narr.
Sein Zelt aufschlagen. Seine Zelte abbrechen. Nicht nur bei Camping-Erprobten oder Animal Crossing-Fans lösen diese Redewendungen Gedanken an einen Aufenthalt aus, der nicht von Dauer ist. Die Zelte haben in Gerungs Gemälde viele Funktionen: Sie verleihen dem Treiben Volksfestcharakter, strukturieren das Bild und deuten darauf, dass alles endlich ist.
So gut sich Gerung offenbar mit dem Bergbau und mit Wettkampfarten auskannte, so wenig scheint er von Musikinstrumenten verstanden zu haben. Zumindest kannte er offenbar deren genaue Spielweise nicht. Denn die Laute wird eigentlich mit der anderen Hand geschlagen. Oder liegt das nur daran, dass Gerung einen Holzschnitt des sogenannten Petrarcameisters als Vorlage benutzt hat, die verkehrten Seiten also von der Drucktechnik herrühren? So oder so bilden die Instrumente ebenso wie andere Objekte und die Kleidung der Figuren viele kleine Fenster in den Alltag Mitte des 16. Jahrhunderts.
Zwischen Erntearbeit und Kampfeshandlung geht es noch auf anderem Felde zur Sache. In einem ordentlichen Wimmelbild dürfen Betrachter*innen natürlich auch Dinge sehen, die den im Bild Lebenden verborgen bleiben: Im Wald hat sich ein Liebespaar versteckt und scheint sich von all dem Getümmel und Getöse rundherum in keiner Form stören zu lassen.
Interessanterweise sind die beiden Figuren den Betrachter*innen am nächsten, die das Maß überspannt haben und sich in zweierlei Art erleichtern müssen – wie an anderen Stellen drängt Gerung auch hier den Betrachter*innen das vermeintlich Verborgene entgegen. Dabei hat man das Gefühl, dass es nur eine kurze Unterbrechung des Vergnügens ist: Die Frau wendet sich zu den Tanzenden und bleibt dem Geschehen so verbunden.