Erna & Gerda Schilling – Tanz, Krankheit und Fürsorge
Die Begegnung in Berlin im Berliner Nachtleben
Als Ernst Ludwig Kirchner 1911 nach Berlin zog, lernte er zunächst Gerda Schilling kennen. Über sie begegnete er ihre jüngerer Schwester Erna Schilling, die später zu seiner Lebensgefährtin wurde.
Die beiden Schwestern hatten das Elternhaus verlassen, als Erna Schilling achtzehn Jahre alt war. Zwischenzeitlich arbeitete sie wohl als Laborantin und Verkäuferin. Vermutlich hatte sie zuvor von ihrer Stiefmutter das Nähen und Sticken erlernt.
Dieses handwerkliche Können setzte sie später ein, als sie Schilling bei der Dekoration von Kirchners Atelier in Davos unterstützte. In Berlin schlugen die Schwestern eine neue Richtung ein und arbeiteten als Tänzerinnen in einem Nachtlokal.
Kirchner erinnerte sich 1925 an die erste Begegnung mit Erna:
„Wir wollten nach Fehmarn zusammen und suchten nach einem Mädchen, das wir ausser der Sidi mitnehmen wollten. Ich fand eine kleine Tänzerin, die im selben Lokal wie Sidi auftrat. (…) Sie war nett, gut gebaut, nur sehr elend und traurig. Wir hatten Sympathie füreinander, und sie ging mit mir und lebte bis zur Abreise ganz gut mit mir …“
„Die Gestaltung des Menschen wurde durch meine dritte Frau, eine Berlinerin, die von nun an mein Leben teilte, und deren Schwester (…) stark beeinflusst. Die schönen architektonisch aufgebauten strengförmigen Körper dieser beiden Mädchen lösten die weichen sächsischen Körper ab.“
Krise und Krankheit Kirchners
1914 besuchten Kirchner und Erna Schilling zum letzten Mal die Insel Fehmarn. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs war der Zugang zur Insel für Zivilist*innen verboten. Auf der Rückreise nach Berlin geriet Kirchner unter Spionageverdacht und wurde kurzzeitig verhaftet. Das Erlebnis hinterließ tiefe Spuren und verstärkte seine Angstzustände sowie seinen zunehmenden Alkoholmissbrauch.
Im Frühjahr 1915 meldete er sich freiwillig als Artilleriefahrer, um nicht in der Infanterie dienen zu müssen. Im Dezember desselben Jahres wurde er nach einem Nervenzusammenbruch endgültig aus dem Militärdienst entlassen.
Der Kontakt zwischen den Schwestern Erna und Gerda Schilling verliert sich im Jahr 1916. Erna Schilling erfährt über Gerdas Tod im Jahr 1923.
Kirchners Leben war durch seine Kriegserfahrung von psychischen Störungen geprägt. In Ernas Briefen findet sich immer wieder der tiefe Ausdruck von Empathie und der Versuch, ihn in seinen krisenhaften Momenten zu unterstützen. Am 5. Oktober 1917 konnte sie ihn im Sanatorium in Kreuzlingen besuchen und half dort auch bei der Betreuung der Patientinnen und Patienten.
In einem Brief vom 21. Oktober desselben Jahres schreibt sie an ihre Bekannte Helene Spengler:
„Dank der Erholung, die ich hier finde, wird es mir möglich sein, Kirchners Angelegenheiten in Deutschland mit neuer Kraft weiterzuführen.“
Noch im selben Monat bevollmächtigte Kirchner Erna Schilling, seine Werke zu verkaufen und seine geschäftlichen Angelegenheiten zu regeln. Bereits zuvor hatte sie das Berliner Atelier verwaltet, während Kirchner in Sanatorien und Kliniken in Königstein, Berlin, Davos und Kreuzlingen behandelt wurde.
Sie bezeichnete es als ihre „einzige Aufgabe, Kirchners Dinge in seinem Sinne zu fördern und fortzusetzen“. Ihre Rolle war zentral für die Aufrechthaltung seiner künstlerischen Karriere. Sie hielt den Briefwechsel mit Freund*innen und Sammler*innen aufrecht, organisierte Ausstellungen und Verkäufe, kümmerte sich um den Versand seiner Werke und stellte Drucke anhand seiner Druckplatten her, die sie mit seiner Signatur versah.
Kirchners Tod und Schillings Erbe
Obwohl Kirchner die hohen Alpen ursprünglich nur als kurzfristigen Rückzugsort zur Genesung aufsuchte, zog er 1918 mit Erna Schilling in das Haus „Auf dem Bauernhaus in den Lärchen“ in Davos.
In der Gegend verbrachte er die zweite Hälfte seines Lebens in verschiedenen weiteren Häusern. Mit dem Erstarken der Nationalsozialisten verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zunehmend, und 770 seiner Werke wurden aus deutschen Museen beschlagnahmt.
Im Mai 1938 beantragte Kirchner bei der Gemeinde Davos die Eheschließung mit Erna, zog den Antrag jedoch zurück. Viele Zeichnungen, die in der Davoser Zeit entstanden sind, bezeugen die intime Beziehung zwischen Kirchner und Erna Schilling.
Am 15. Juni 1938 nahm er sich in Davos das Leben. Erna Schilling, die er zuvor noch in seine Überlegungen einbezogen hatte, schrieb in tiefer Verzweiflung:
„Alles ruht auf mir. Er hat ein grauenhaftes Chaos hinterlassen. Ich bin am Zusammenbrechen. (…) Vor mir liegt ein großes Dunkel.“
In Briefen an Freund*innen wird deutlich, wie sehr sie unter Einsamkeit, materieller Not und der Last der Verantwortung für den Nachlass litt. Zwischen 1938 und 1945 verkaufte sie einzelne Skizzenbuchseiten und ganze Skizzenbücher an die befreundete Weberin Lise Gujer, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.
Erna Schilling starb 1945, sieben Jahre nach Kirchner. Ohne ihre Fürsorge, ihre organisatorische Arbeit und ihre unermüdliche Unterstützung in Zeiten schwerster Krisen wäre Kirchners Leben und Werk zweifellos weniger erfolgreich verlaufen.