Was bedeutet „Modell“ bei Kirchner?
Vom Berufsmodell zur Vertrauten
Statt idealisierte Posen professioneller Aktmodelle darzustellen, bevorzugten Kirchner und die „Brücke“-Künstler Menschen aus ihrem nahen Umfeld. Um spontane Bewegungen einzufangen, entstanden im Atelier die sogenannten „Viertelstundenakte“ – kurze, 15-minütige Zeichensitzungen mit Freundinnen, Partnerinnen oder Bekannten.
Für Kirchner und die „Brücke“-Mitglieder war der Körper eng mit den Themen Sexualität und Moral der bürgerlichen Gesellschaft verknüpft. Nacktheit sollte nicht idealisiert, sondern in konkreten gemeinsamen Erlebnissen erfahrbar werden.
Die kurzen, konzentrierten Darstellungen in den Skizzen, oft mit dynamischem Strichen gezeichnet, machen Bewegung und Unmittelbarkeit spürbar.
Bewegung und Natürlichkeit der Modelle
Max Pechstein erinnerte sich, dass die Künstler nach Personen suchten, „die keine Berufsmodelle waren und […] daher Bewegungen ohne Atelierdressur verbürgten.“ Kirchners Skizzenbücher zeigen lebendige Alltagsszenen im Atelier oder in der Natur und spiegeln zugleich den Wandel des Frauenbildes wider.
Zwischen 1909 und 1911 verbrachte er die Sommermonate mit „Brücke“-Kollegen, Freundinnen und Modellen an den Moritzburger Teichen bei Dresden. Hier entstanden zahlreiche Zeichnungen von frei bewegten Körpern in der Natur.
Das gemeinsame Erlebnis und das ungezwungene Lebensgefühl standen im Zentrum der künstlerischen Arbeit. Die Werke gelten häufig als Höhepunkt des „Brücke“-Stils. Der neue Umgang mit Nacktheit spiegelte zugleich die Suche nach einem alternativen Lebensentwurf, nach einem anderen Verhältnis zwischen Mensch und Natur sowie zwischen den Geschlechtern.
Das Machtgefälle zwischen Künstler und Modell
Doch der Begriff „Modell“ greift zu kurz. Er klingt statisch und verdeckt Aspekte wie Vertrauen, Intimität und die oft unausgeglichenen Machtverhältnisse zwischen Künstler und Dargestellten. Kirchner selbst berichtete, dass es sich um wechselseitige Einflüsse handelte: „Die Personen lernten von den Malern, die Maler von ihnen.“
Die Sicht der Frauen bleibt jedoch meist verborgen. Nur über Skizzenbuchseiten, Tagebücher oder Briefe der Künstler lassen sich Hinweise finden – Spuren, die ihre Teilnahme und ihren Einfluss auf das künstlerische Schaffen sichtbar machen.
Kulturelle Einflüsse und koloniale Hintergründe
Die Künstler griffen auch auf internationale Kunstformen zurück, die sie damals als Ausdruck einer „ursprünglichen“ Lebensweise verstanden.
Aus heutiger Sicht zeigt sich darin eine koloniale Haltung: Andere Kulturen wurden nicht in ihrer Vielfalt und in den damaligen ungleichen Machtverhältnissen wahrgenommen, sondern auf ein Idealbild von Natürlichkeit reduziert. Dieses Denken verband sich mit Vorstellungen, die in Europa weit verbreitet waren – etwa die Gleichsetzung von Frauen mit „Natur“ und Männern mit „Zivilisation“. In Kirchners Bildern ist dieses Muster erkennbar.