
Der Betlehemitische Kindermord
Beschreibung
Der unvollendete Kupferstich von Hendrik Goltzius wird üblicherweise als Darstellung des "Bethlehemitischen Kindermords" bezeichnet. Auf dieses, in Matthäus 2, 16-18 geschilderte Thema verweisen die Frauen auf der linken Seite, die ihre Kinder vor dem gewaltvollen Zugriff der Schergen zu schützen suchen. Die existentielle Angst und die tiefe Verzweiflung werden durch die ausgreifenden Gesten, die von Schmerz gezeichneten Gesichter und sich windenden Körper eindrucksvoll vermittelt. Darüber hinaus sind die Figuren so übereinander gestaffelt, dass sie sich gegenseitig in ihrer Wirkung verstärken. Im deutlichen Gegensatz zur Emotionalität dieser Szene steht die überlegene Gelassenheit der rechten Gruppe. Auf einem angedeuteten Sockel, auf dem auch das Monogramm des Künstlers zu lesen ist, steht eine nackte männliche Gestalt, die von zwei Soldaten begleitet wird. Deutet man diese im Zusammenhang mit dem Kindermord so müsste es sich um den von seinen Gefolgsleuten begleiteten Herodes handeln, der aus Furcht vor dem neu geborenen König der Juden den Befehl zu der Tötung gegeben hatte. Eine solche Darstellung erscheint ungewöhnlich: Herodes wäre nicht nur Befehlsgeber, sondern auch Zeuge des Geschehens.
Zugleich führt der Kupferstich in beispielhafter Weise die Rezeption bedeutender Werke der Antike und der Renaissance vor Augen: Die muskulöse männliche Gestalt geht auf die antike Skulptur des Herkules Farnese bzw. den nach diesem Vorbild gestalteten Herkules Pomarius von Willem Danielsz. van Tetrode zurück. Die Gruppe der Frauen, Kinder und Soldaten hingegen nimmt Bezug auf einen Stich von Marcantonio Raimondi, der wiederum auf einer Zeichnung Raffaels basiert.
Es verwundert, dass Goltzius den Stich nie vollendet hat. Große Leerflächen bilden einen Gegenpart zu den bis ins Detail ausgeführten szenischen Partien. Auch wirkt die Darstellung durch die vereinzelt, im Maßstab deutlich kleinere Gruppe von Mutter und Kind links wie eine Studie. Möglicherweise brach der Künstler die Arbeit an der Darstellung ab, da sich die Komposition nicht zu einem harmonischen Ganzen fügte. Doch scheint sie dennoch die Wertschätzung des Künstlers sowie der Zeitgenossen gefunden zu haben: Das Motiv wurde von Goltzius signiert und fand in mehreren Abdrucken Verbreitung. Es erweist sich als ein Meisterwerk des Kupferstichs. In brillanter Weise gelingt es dem Künstler, über die Licht- und Schattenverteilung Körperlichkeit zu erzeugen und eine räumliche Wirkung hervorzurufen. Dabei setzt er die mit dem Grabstichel geschnittenen Linien virtuos ein: Er gestaltet dunkle Partien aus gekreuzten oder in dichten Parallelen geführten Linien und lässt die hellen Flächen fast unbearbeitet. Die Übergänge vermittelt er wiederholt durch subtil gesetzte Punkte. Zugleich arbeitet er mit der Linie selbst, lässt sie durch den veränderten Druck, mit dem er den Grabstichel einsetzt, An- und Abschwellen und führt sie in elegant geschwungenen Kurven. Dank der hervorragenden Qualität des Abdrucks wird die ganze Raffinesse seiner Formensprache sichtbar. Über die Datierung des Blattes herrscht Uneinigkeit. Vorgeschlagen wurde sowohl eine frühe als auch eine sehr späte Entstehung.
Die Karlsruher Kunsthalle bewahrt neben einem kleinformatigen Kreuzigungsbild 39 Kupferstiche des Künstlers.
[A.R.]
Daten und Fakten
Titel | Der Betlehemitische Kindermord |
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Künstler*in | Hendrick Goltzius |
Entstehungszeit | nach 1600 |
Inventarnummer | 1993-4 |
Maße Platte | H 48,9 cm B 37,3 cm |
Material | Papier |
Technik | Kupferstich |
Gattung | Kupferstich |
Abteilung | Kupferstichkabinett |
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DAS BESONDERE BLATT 2012 04-06
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1808: Le Peintre-Graveur
Bartsch, Adam von
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1921: Verzeichnis des graphischen Werks von Hendrick Goltzius
Hirschmann, Otto
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1953: Dutch and Felmish Etchings, Engravings and Woodcuts
Hollstein, F.W.H.
ca. 1400-1700 -
1992: Kunst auf Papier 1480-1846
Rumbler, Helmut H.