Lego und Landschaftsmalerei: Blick auf das Meer bei L’Estaque von Paul Cézanne
Das Bild dieser Folge ist unspektakulär und bahnbrechend zugleich. Wie kann das sein? Finden wir’s raus! Das Gemälde stammt aus der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe und trägt den Titel Blick auf das Meer bei L’Estaque und entstand 1883 bis 1885. Und er hat’s gemalt? Der Franzose Paul Cézanne. Er gilt als einer der „Väter der Moderne“, weil er so revolutionär gemalt hat. Er hat Traditionen wirklich eingetreten und der Kunstgeschichte quasi einen Nackenklatscher verpasst. Picasso bewunderte ihn wahnsinnig und der Künstler Paul Gauguin, ein Zeitgenosse Cézannes, kaufte Werke von Cézanne als Wertanlage – gute Wahl, denn 2022 wurde ein Werk von Cézanne für 138 Millionen US-Dollar verkauft. Dann schauen wir uns das Bild aus der Kunsthalle Karlsruhe jetzt mal näher an. Viel Spaß!
Intro
Was gibt‘s hier zu sehen? Bildliche Beschreibung
Ganz ehrlich, das Motiv „Blick auf das Meer bei L’Estaque“ ist nicht so super spannend. Es ist ein Landschaftsbild mit Bäumen, Felsen, ein paar Häusern und Meer. Man guckt von oben einen Felsen herunter. Joa, klingt jetzt nicht wie ein Krimi. Aaaaaber die Malweise von Cézanne ist richtig krass. Macht euch noch mal klar, das Bild ist von 1883 bis 1885. Zu dieser Zeit hatte sich der Impressionismus gerade etabliert mit seiner stricheligen, flirrigen Malweise. Aber Cézanne geht hier bereits einen Schritt weiter. Mit kurzen Pinselstrichen zerlegt er die Landschaft in eckige Farbfelder, als hätte er das Motiv in kleine Würfel zerschnippelt und dann zusammengesetzt. Die Farbflächen sind ineinander verwoben, als wäre das Bild ein farbiger Flickenteppich. Das Motiv wird zu einer Anordnung aus Formen und Farben, die der Künstler moduliert wie einen Baukasten. Man sieht die Welt hier durch einen geometrischen Filter. Und das ist wirklich revolutionär.
Was macht das Werk so besonders?
Von Cézanne gibt es ein sehr berühmtes Zitat und zwar das hier: „Man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kugel und Kegel und bringe das Ganze in die richtige Perspektive, so dass jede Seite eines Objektes, einer Fläche nach einem zentralen Punkt führt […].“ Zylinder, Kugel, Kegel… Das klingt, als würde Cézanne eine Pralinenschachtel beschreiben. Aber war er hier sagt, ist im Prinzip: „Lasst uns die Malerei in geometrische Grundformen zerlegen.“ Und das tut er auf dem Bild aus Karlsruhe. Cézanne macht gewissermaßen die Landschaft zu einem Lego-Set. Dieses Aufsplittern des Motives wird für spätere Kunstrichtungen elementar, denn es ist ein ganz wichtiger Schritt in Richtung Abstraktion. Man malt eben nicht nur mehr die Landschaft, sondern teilt sie in geometrische Formen auf. Das ist eine Art des Abstrahierens.
Was auch wichtig ist: Cézanne wirft in seiner Malerei die klassische Perspektive über den Haufen. Man kriegt den Eindruck, dass die Felsen beim „Blick auf das Meer bei L’Estaque“ aus unterschiedlichen Blickwinkeln gemalt sind. Hier werden mehrere Perspektiven miteinander vermischt, als hätte man auf dem einen Augen einen Um-die-Ecke-Gucker und auf dem anderen Auge guckt man normal. Diesen Perspektiv-Cocktail wandte Cézanne auch gerne in seinen Stillleben an. Beispielsweise malte er einen Teller von der Seite und einen anderen von oben – beides auf dem gleichen Gemälde. Da wird nicht mehr einfach abgemalt, sondern die Realität so hingebogen, wie es gerade passt.
Und genau darum geht es Cézanne: Scheiss drauf die Natur möglichst genau wiederzugeben. Cézanne unterwirft die Landschaft seinen künstlerischen Methoden. Nicht das Motiv bestimmt das Bild, sondern der Maler. Cézannes Ziel war eine harmonische Gesamtkomposition und dafür überzieht er das ganze Gemälde mit einer Struktur aus dicht gesetzten Pinselstrichen. Und wenn man dabei Regeln bricht, egal. Das ist Innovation! Passend dazu noch ein Zitat von Cézanne, das seine Vorreiter-Rolle gut unterstreicht: „Ich bin vielleicht zu früh gekommen. Ein anderer wird machen, was ich nicht habe machen können. Ich bin vielleicht nur der Primitive einer neuen Kunst.“ Hui, es ist offenbar einsam an der Speerspitze.
Der Epochen-Check
Cézanne durchlief in seiner künstlerischen Laufbahn mehr Entwicklungsstufen als so manches Pokémon. Anfangs wurde er stark beeinflusst von Romantik und Realismus, widmete sich dann dem Impressionismus und überwand diesen Stil schließlich. Das Bild aus der Kunsthalle Karlsruhe zählt daher zum sogenannten Post-Impressionismus. Also Nachimpressionismus, so nennt man die Kunst nach dem Impressionismus – fauler geht’s kaum. Der Post-Impressionismus ist ein offener Sammelbegriff für unterschiedliche künstlerische Positionen Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei gewinnt die Malerei zunehmend an Bedeutung und Farben und Formen werden freier und weniger gegenständlich verwendet. Das alles wäre ohne den Impressionismus nicht denkbar gewesen. Der Post-Impressionismus beschreibt eine Art Zeitrechnung. Es ist wie mit Christus oder Corona, es gibt ein Davor und Danach – so ist es mit dem Impressionismus auch.
Zum Post-Impressionismus zählten auch Vincent van Gogh und Paul Gauguin. Bei van Gogh sehen die Bilder oft so dynamisch aus, als wäre man einmal mit dem Pürierstab durchgegangen, bei Gauguin wiederum sind die Bilder ruhig und flächig, als hätte man sie platt gebügelt. Naja, und Cézanne macht alles irgendwie eckig, geometrisch. Er vereinfacht das Gesehene formal. Also, ziemlich verschiedene Ansätze. Aber alle drei Künstler haben eine Gemeinsamkeit: Bei ihnen gewinnt die Malerei selbst an Bedeutung und wird zunehmend eigenständig. Perfekte Illusion ist out, stattdessen werden Farben und Formen immer freier verwendet, von wilden Wirbeln wie bei van Gogh bis hin zu kleinen Kuben wie bei Cézanne.
Wie wurde das Werk beeinflusst? Interessante Inspirationen
Zu dem Ort dem französische Fischerdorf L’Estaque hatte Cézanne eine intensive Beziehung. Rund 20 Jahre zählte es zu seinen Lieblingsmotiven, er malt rund 40 Gemälde von diesem Ort – das Bild dieser Folge ist eines davon. 1870, als der Deutsch-Französische Krieg beginnt, zieht sich Cézanne nach L’Estaque zurück. Er will vermeiden, dass er als Soldat eingezogen wird. Mit ihm kommt seine Freundin Hortense Fiquet, eine Buchbinderin aus armen Verhältnissen. Zwei Jahre später wird ihr gemeinsamer Sohn geboren. Doch sowohl die Beziehung als auch das Kind hält Cézanne vor seinem Vater geheim, weil der Vater das alles ganz und gar nicht gefällt. Es ist ein echtes Drama und als der Vater davon erfährt, dauert es Jahre, um ihn umzustimmen. In den 1880er Jahren ließ sich Cézanne dann fest in L’Estaque nieder und in der Zeit entstand das Bild aus der Kunsthalle Karlsruhe. Cézanne faszinierte die unveränderliche Landschaft bei L’Estaque. So konnte er langsam arbeiten, hier lief ihm nichts weg. Und wow, Cézanne arbeitete langsam. Bei ihm konnten Minuten zwischen zwei Pinselstrichen liegen. Allerdings ist unsere Zeit jetzt um, wir sind am Schluss dieser Folge angelangt. Ich hoffe, ihr konntet was daraus mitnehmen. Danke für’s Zuhören, Ciao.