Dauerwelle oder Beach Waves – Locken machen es sowohl Träger*innen als auch Stylist*innen nicht einfach. Die fein mit Glanzlichtern versehenen, lang über die Schultern Marias wallenden Locken sind aber nicht nur ein charmantes Fenster in die Haarmode der Vergangenheit, genauer des frühen 16. Jahrhunderts. Dass die junge Frau ihre Haare nicht sittsam gebunden unter einer Kopfbedeckung versteckt hat, obwohl sie verheiratet ist, weist sie als Jungfrau aus. Denn nur einer solchen war es zu der Zeit erlaubt, die Haare offen zu tragen.
Maria trägt ein aufwendig gearbeitetes, mit Goldfäden besticktes Kleid. „One pattern all over“, also durchaus derzeitigen Trends entsprechend. Ob man nun feinteilige Streublumen – Mille fleurs – oder eher große Prints bevorzugt, dass dieses Kleid die Trägerin aus der Masse heraushebt, ist wohl unbestritten. Dabei ist die Wahl des Musters sicher nicht zufällig. Granatapfelmotive liegen im 15. und 16. Jahrhundert im Trend und finden sich auf zahlreichen Möbel-, Ausstattungs- und Kleiderstoffen. Auf Maria (und Jesus) bezogen aber ist der Granatapfel in antiker Tradition jedoch ein Symbol für Liebe, Fruchtbarkeit und Unsterblichkeit.
Dass es auch jetzt noch Tierzucht zur Pelzgewinnung in Europa gibt, ist spätestens seit der Corona-Berichterstattung bekannt: In Dänemark mussten 2020 einige Millionen Nerze getötet werden, weil sie eine Rolle in der Übertragung des Virus gespielt haben. Marias Kleid ist ebenfalls mit Tierfell besetzt, um genau zu sein mit Hermelin. Sein weißes Winterfell galt schon im frühen Mittelalter als Inbegriff von Reinheit und war zu Zeiten des Künstlers Ulrich Apt ausschließlich hohen geistlichen und weltlichen Würdenträger*innen vorbehalten. Maria ist durch den Pelzbesatz als zukünftige Himmelskönigin ausgezeichnet.
Meist wird Josef, der Legenden zufolge über 100 Jahre alt wurde, als alter, bärtiger Mann dargestellt. Der Maler Ulrich Apt zeigt hier einen anderen Typ – wenn nicht die etwas aus der Mode geratene Frisur wäre, könnte man meinen, ihm schon einmal begegnet zu sein. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat der Maler hier einen Zeitgenossen in der Rolle Josefs porträtiert – ein übliches Vorgehen finanzkräftiger Auftraggeber*innen, um sich in die Geschichte einschreiben zu lassen.
Ochs und Esel dürfen in keiner Erzgebirgskrippe, in keinem Weihnachtsspiel fehlen. Doch in der biblischen Erzählung von Christi Geburt werden sie nicht erwähnt. Einerseits wurden sie wohl schon früh in der Malerei dargestellt, weil der Engel in der Bibel verkündete, der Herr liege in einer Krippe – und wo soll eine solche Futterstätte stehen, wenn nicht in einem Stall mit Tieren? Andererseits prophezeite der Prophet Jesaja bereits im Alten Testament: „Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn“. Eine Vorhersage, die schon früh auf Christi Geburt bezogen wurde.
Noch stärker als Maria macht Josef den Eindruck, gar nicht zum Jesuskind, sondern nach innen zu schauen. Nicht gerade erfreuliche Gedanken scheinen ihn zu bewegen. Ob dies im Fall dieses Bildes an der schwierigen Rolle liegt, die ihm Bibel und theologische Deutung zugedacht haben, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Nähr- und Ziehvater ist zwar nicht erst mit der modernen Patchworkfamilie ein denkbares Modell, aber wie nimmt man die Rolle des irdischen Vaters für Gottes Sohn ein?
Wo ein Graffiti „getaggt“ wird, wird ein Gemälde signiert. Eine solche Signatur gibt es bei diesem Kunstwerk nicht – es entstand in einer Zeit, in der erst wenige Künstler*innen ihre eigene Persönlichkeit in den Vordergrund rückten. Wenn auch nicht mit der Unterschrift versehen, ist der einstige Flügel eines Altars aber datiert. Als wäre sie in den Stein gemeißelt, hat der Maler Ulrich Apt die Jahreszahl 1510 auf die Tafel gemalt.
„Da liegt es, das Kindlein, auf Heu und auf Stroh“. In den Advents- und Weihnachtstagen sind die biblischen Geschichten überall präsent. In Liedern, Schaufenster- oder Weihnachtsmarktdekorationen umgeben sie uns. Der Bibel zufolge lag das Jesuskind in Windeln gewickelt in einer Krippe. Der Maler Ulrich Apt zeigt es aber völlig nackt und deutet damit die Verletzlichkeit des Menschen an, der hier geboren wurde. Das weiße Tuch erinnert nicht umsonst an ein Leichentuch. Mit dem freudigen Jubel des Weihnachtsfestes ist für Christ*innen auch das Wissen um den späteren Tod am Kreuz, aber auch um die Auferstehung verbunden.
Bemerkenswert an den Engeln sind nicht nur ihre riesigen Erwachsenenköpfe auf den kindlich kleinen Körpern. Es ist auch die Vielfalt ihrer Kleidung, die komplett aus dem Schrank eines bzw. mehrerer Geistlicher stammt: Von dem weißen Untergewand, das jeder Kirchenmann trägt, über das rote samtene Gewand eines Diakons bis hin zu den typischen „Accessoires“ eines Priesters: Stola, Kasel und Rauchmantel. Himmlische Diener Gottes werden so mit den irdischen, kirchlichen gleichgesetzt.
Demütig und ehrfürchtig nehmen die Hirten im Hintergrund die Botschaft der Engel auf. Sie, die einfachen Menschen, sind die ersten, denen die Nachricht von der Ankunft des Erlösers zuteilwird. Dabei stehen im Vordergrund bereits zwei ihrer Kollegen, die das Kind schon gefunden haben! Es ist ein für diese Zeit typisches Verfahren, mehrere Momente einer Erzählung in ein Bild zu bringen, ein Davor und Danach auf eine Leinwand oder Holztafel zu bannen.
Warum Sherlock Holmes für uns mehr Spaß macht, wenn er mit Messenger statt Brief kommuniziert und wenn Watson bloggt, statt seine Stories in einer Zeitung zu veröffentlichen? Offensichtlich! Weil sie näher an unserer Lebensrealität und damit für uns verständlicher sind. Diesen Kniff kannten auch schon mittelalterliche Künstler*innen: Ulrich Apt hat seinen Figuren zeitgenössische Kleidung angezogen und im Hintergrund eine mittelalterliche Stadtkulisse eingefügt, eine Art Burg mit Aborterkern (Außentoiletten!) über einem See mit dahintreibenden Schwänen. So hatten Betrachter*innen das Gefühl, die Geburt Christi spiele sich mitten in ihrer Welt ab.
Als Ort für Christi Geburt wählte der Maler keinen Stall, sondern eine Ruine. Einst vermeintlich fest und für die Ewigkeit errichtet, hat das Gebäude schon kein Dach mehr, die Wände sind weggebrochen und in den Rissen wachsen Pflanzen. Man könnte meinen, damit werde auf eine schäbige Unterkunft angespielt, denn laut Bibel hatte die Familie keinen Platz mehr in der Herberge gefunden. Doch viele Maler*innen nehmen mit solchen Ruinen bildhaft den Gedanken auf, dass mit der Geburt Christi der alte Glaube zerfällt und eine neue Zeit anbricht.
Den schillernden Stoff dieses Engelsgewands hat der Maler Ulrich Apt anschaulich wiedergegeben. Im Stoffgewebe wird der Farbwechsel-Effekt erzeugt, indem die Quer- und Längsfäden, die so genannten Kett- und die Schussfäden, jeweils eine andere Farbe besitzen. Besonders wirkungsvoll ist der Effekt bei Seidentaftgeweben, bei denen die Kett- und Schussfäden unterschiedlich dicht gesetzt sind.
Die Hirten empfangen die Botschaft des Engels in der ihnen, zumindest aus Sicht des Malers, geläufigen Sprache, nämlich auf Deutsch: „Ich verkünde Euch große Freud“ steht auf dem Spruchband in mittelalterlichem Augsburger Dialekt. Der Lobgesang durch die Engel rechts daneben ist dagegen mit lateinischen Worten versehen, zumindest ist noch zu lesen, an wen er sich richtet: „DEO“, Gott, dem Ehre gesungen wird. Die Schriftrolle halten die drei Chorknaben in den Händen, als wäre sie ein Notenblatt.
Oft findet man Hinweise auf den Beruf, den Josef der Bibel zufolge ausgeübt hat. Auch hier sind die beiden Messer, die er in einer Scheide an seinem Gürtel trägt, wahrscheinlich Hinweise auf seine Tätigkeit als Zimmermann. Seine Kleidung, der schlichte Mantel und die Mütze, die er demütig in der Hand hält, ist nicht wie bei Maria prunkvoll, aber auch nicht die eines mittelalterlichen Handwerkers. Der hätte wohl eine Art Strumpfhose und einen kurzen Rock getragen. Josefs Mantel passt eher zu einem Bürger.