Es ist zwar nicht der Nabel der Welt, aber zumindest der Mittelpunkt des Kunstwerks. Durch einen Korken, einer Inschrift und einem Hinweispfeil wird der Nabel des Bildes markiert. Alle anderen Elemente scheinen wie in einem Strudel darum herumzuwirbeln. Der Nabel taucht übrigens auch im Titel des Gemäldes auf, der lautet: „Merzbild 21 b, Das Haar-Nabelbild.“
Schwitters nutzte Fragmente seiner Kunstwerke gerne für deren Bezeichnungen. So entstand auch der übergreifende Begriff der Merzkunst, da Schwitters 1919 den Wortfetzen „Kommerz“ in einer Collage integrierte. Der Begriff „Merz“ leitet sich von den Worten „Kommerz“ und „ausmerzen“ ab und entwickelte sich zum ironischen Namen seiner Kunstrichtung. Inhaltliches sollte ausgemerzt werden.
Mit wenigen Klicks können heutzutage Zug- oder Flugtickets für eine Reise erworben und dadurch ein bisschen Freiheit erkauft werden. Auch Kurt Schwitters nahm sich mit dieser Fahrkarte ein Stück Freiheit, indem er den Umsteigefahrschein für 30 Pfennig in sein Werk integrierte. Alltagsgegenstände für Kunst zu verwenden galt in der damaligen Zeit als besonders provokant. Nach Ende des Ersten Weltkriegs sagte er Folgendes über sich und seine (Merz-) Kunst:
„Ich fühlte mich frei und musste meinen Jubel hinausschreien in die Welt. Aus Sparsamkeit nahm ich dazu, was ich gerade fand, denn wir waren ein verarmtes Land. Man kann auch mit Müllabfällen schreien und das tat ich, indem ich sie zusammenleimte und nagelte. Ich nannte es Merz, es war aber mein Gebet über den siegreichen Ausgang des Krieges. Kaputt war sowieso alles, und es galt aus den Scherben neuen zu bauen. Das aber ist Merz…“
Die Fahrkarten, Zeitungsreste und der „TURIS(mus)“-Fetzen nehmen die Betrachter*innen mit auf eine Reise durch die Welt. Durch den Korken, der den Nabel markiert und die wirbelhafte Anordnung der Elemente erweckt das Werk den Eindruck, als würde es die aus der Balance geratene Welt darstellen.
1920, als das Werk entstand, war geprägt von wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen. Bei all den Krisen mit denen wir heutzutage konfrontiert sind, ist diese Interpretation des Werks erschreckend aktuell.
Auf dem Bild verteilt befinden sich zahlreiche Fragmente von Zigarettenpackungen – nur ohne die abschreckenden Bilder der heutigen Exemplare. Schwitters selbst rauchte gerne und schrieb sogar ein Gedicht mit dem Namen „Cigarren(elementar)“. Dennoch betonte Schwitters, dass er die Materialien für seine Collagen nur im Sinne der Abstraktion benutze und ließ ihnen keine inhaltliche Bedeutung zukommen.
Dadaist*innen wie Kurt Schwitters entwickelten die Technik der Collage und Montage und verbanden diese häufig mit Malerei. In diesem Detail ist die Übermalung mit Ölfarben deutlich zu erkennen, die die Elemente miteinander verbindet.
Ähnlich wie bei Instagram-Filtern sollten dadurch die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen Wahrheit und Nicht-Wahrheit und zwischen Sinn und Unsinn verblassen.
Ein wenig erinnern die Haare im „Merzbild 21 b“ an Curtain Bangs. Gleichzeitig sieht die Komposition aus Haaren, Watte, Knöpfen und anderen Materialien aus wie der Inhalt eines vollen Staubsaugerbeutels. Oder stellt es doch den Bart eines Walrosses dar? Das abstrakte Werk ist nicht nur ein Zusammenspiel aus Farben und Formen, sondern kann sich auch vielseitigen Assoziationen nicht entziehen. Schwitters selbst leugnete die Bedeutung der Bildelemente.
Instagram und Pinterest könnten keine kreativeren Upcycling-Projekte im Discover-Feed verstecken als Kurt Schwitters in seinem „Merzbild 21 b“.
Die Kunst von Kurt Schwitters ist dem Dadaismus zugeordnet. Diese Kunstbewegung war davon geprägt, dass die Künstler*innen die damaligen Wertesysteme und Konventionen ablegten und ihre Kunst als eine Art Protest instrumentalisierten. Dazu gehörte auch, Alltagsgegenstände zu Kunstobjekten zu erklären. So werden die abgebildeten Hölzer, Pappen und andere Materialien zu abstrakten Kunstwerken upgecyclet. Eine Art Anti-Kunst.
Bei dem Siegel handelt es sich nicht um den erhofften Brief von Hogwarts, sondern um ein weiteres zufälliges Element, das Kurt Schwitters in sein Werk einbaute. Das Siegel zeigt das Monogramm HG. Auf wen das bezogen ist, bleibt offen, doch es passt zu diesem Bild und der Kunst von Schwitters.
Der Künstler erfand einen ganz eigenen Begriff und damit eine Art „Siegel“ für seine Kunst: Die Merzkunst. So betitelte er Gemälde, aber auch literarische Werke und einen Bau. Er erreichte durch dieses Branding einen hohen Wiedererkennungswert.
Was heutzutage ein Fall für Marie Kondo wäre, war für die Künstlerin Hannah Höch ein Zeichen ihrer Freundschaft zu Kurt Schwitters. Der von einer regelrechten Sammelwut gepackte Schwitters deponierte Teile seiner Materialsammlungen aus Verbrauchtem und Weggeworfenem bei der eng befreundeten Dada-Künstlerin. Er müllte sozusagen ihre Wohnung voll.