Der Mond und die fehlenden Berge
Doris Wolters liest Cornelia Funke
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Dieses Bild beweist, dass nicht nur die Deutschen vom Mond besessen sind. Vom Mond und vom Wald, wie mir ein englischer Journalist einmal erklärte. Der Maler, der die Elbe nahe Dresden im Mondlicht zu flüssigem Silber werden lässt, wurde in Norwegen geboren, in Bergen, um genau zu sein. Wir alle werden von den Landschaften unserer Kindheit soviel mehr geprägt, als uns bewusst ist.
Johan Christian Dahl lebte fast sein ganzes Leben lang fern dem Land, in dem er geboren worden war, ohne je die Sehnsucht danach zu verlieren. An den deutschen Landschaften, die er mit solcher Meisterschaft malte, fehlte immer etwas, wie er geäußert haben soll. Die norwegische Landschaft seiner Jugend war soviel dramatischer. Vielleicht spürt man die Spannung zwischen Land und Himmel, Wasser und Erde in seinen Bildern deshalb etwas ungebärdiger als bei seinem Zeitgenossen Caspar David Friedrich, mit dem ihn eine so enge Freundschaft verband, dass sie zeitweilig sogar ein Haus teilten.
Eine Reise nach Italien soll Dahl gelehrt haben, Schönheit zu sehen und zu malen, die nicht an die Berge und Fjorde seines Geburtslandes erinnerte und mit befreitem Pinsel und frischer Palette Landschaften einzufangen, die nicht von Erinnerungsbildern überlagert waren. Als er in den Norden zurückkehrte, malte er die Natur der deutschen Fremde, die er den Großteil seines Lebens Heimat nannte, mit dem Realismus, den auch Caspar David Friedrich anstrebte. Beide wollten die Natur wahrhaftiger darstellen, als es zu ihren Lebzeiten üblich war, und setzten diese Absicht auf, wie sich bald zeigte, unvergängliche Weise um – falls man das von irgendeiner menschlichen Unternehmung sagen kann.
Dahls monderleuchteter Elblandschaft sieht man nicht an, wie heimwehkrank er in Dresden nach der norwegischen Landschaft war. Ausser man glaubt in den Wolken die Berge zu sehen, nach denen er sich stets sehnte. Dahl malte die nächtliche Elbe im Jahr 1823, als Landschaftsmalerei noch als verachtenswert kommerzielle Ware galt und Maler, die etwas auf sich hielten, heroische Geschichtsszenarien auf die Leinwand bannten. Dahl glaubte jedoch wie Friedrich daran, dass man mit der Natur alles darstellen könne, was die menschliche Existenz ausmacht, hierin interessanterweise nicht unähnlich dem Glauben amerikanischer Indianer, dass die physische Wirklichkeit immer auch die spirituelle wiedergibt.
Jeder Rabe, der den Blick des Betrachters hält, jede Wolke, die sich am Himmel zeigt, der Baum, der sich vor dem kalten Wind duckt – die Natur hilft dem Menschen, das Rätsel seiner Existenz zu entziffern, wenn er die Signale nur bereit ist zu lesen. Alles ist Kommentar oder Echo, nichts ohne Bedeutung. Die Landschaft wird zur himmlischen Nachricht, zur visuellen Erklärung der menschlichen Existenz.
Johan Christian Dahl wurde am 24. Februar 1788 als Sohn eines einfachen Fischers in Bergen geboren – im Zeichen des Fisches. (In China wäre es der Affe gewesen, Sternbilder sind nicht international). Trotz seines großen Erfolgs als Maler – schließlich wurde er nicht nur als Begründer des goldenen Zeitalters der norwegischen Malerei gefeiert, sondern als einer der größten europäischen Maler aller Zeiten – beklagte Dahl sein Leben lang die Chancenlosigkeit und Härte seiner Kindheit. Vielleicht brennen die Feuer in seiner Elblandschaft auch gegen diese erinnerte Dunkelheit.
Die Nächte waren noch sehr dunkel im Jahr 1823. Wir können wohl heute nicht mehr ermessen, was der Mond in einer Zeit bedeutete, in der die Nacht nicht von Straßenlichtern erleuchtet war. Das stetig wachsende Licht am Himmel, das Trost und Hoffnung spendete, der finstere Schrecken des Neumonds, die zugleich verzaubernde und verstörende Schönheit des Vollmonds …. das Mondlicht vertrieb die Finsternis der Nacht so viel wirksamer als die Feuer, die der Mensch den Göttern gestohlen hatte. Das silberne Licht, das sich in den Wolken und auf dem Wasser fängt, von Dahl so atemberaubend gemalt, vertrieb die Angst vor einer Nacht, die vielleicht eines Tages keinen Morgen kennt. Der Mond entlarvte die Räuber, ob Mensch oder Tier, die sich unter dem Kleid der Nacht verbargen und füllte das Herz mit der Hoffnung, dass irgendetwas am Himmel wacht.
Dennoch … das Licht des Mondes rief schon immer kompliziertere Gefühle wach als das der Sonne, egal, ob man den Mond, wie die Deutschen, für männlich hält oder ihn wie im Süden „La Luna“ nennt. Vielleicht ist der Mond im Norden männlich, weil die Sonne dort oft so schwach erscheint – ein Attribut, das immer noch gern den Frauen zugeordnet wird. Ob Mann oder Frau am Himmel – heute wie damals nistet im Mondlicht stets auch der Schatten, das Irrationale, das Sich- Verlieren, das Kapitulieren des Verstandes vor der Macht der natürlichen Welt, als deren Beherrscher der Mensch sich so gern bei Tag gebärdet.
Dahl erinnerte der Mond als Sohn eines Fischers sicher auch an die Macht, die er über die Gezeiten hatte. Man glaubt, den Sog auf seinem Bild zu spüren. Der Himmel wird zum Meer, zu dem es den Fluss, in dem er sich spiegelt, unaufhaltsam zieht, und nicht nur deutsche Märchen erzählen von all den Wesen, die der Mond auf nebelverhangene Lichtungen und aus den Tiefen der Flüsse lockt, weil sie Schuppen oder Pelz in seinem Licht baden wollen. In Norwegens Mythen spielen schöne Wassermänner, die Fossegrimme, ihre Geige im Mondlicht unter Wasserfällen, und die Trolle sind nur im Mondlicht sicher, während die Sonne sie zu Stein erstarren lässt. Die Gesetzlosigkeit der Nacht, die Begierden, denen im Schutz der Dunkelheit soviel leichter nachgegeben wird … der Mond beleuchtet sie, ohne sie zu verbieten. Der Mensch wird zum Werwolf im Mondlicht, gibt sich Vampiren hin, vergisst, was er am Tage ist, gehorcht anderen Gesetzen. Vielleicht brennen auch deshalb all die Feuer auf Dahls Bild – um die Menschen, die sich an ihnen wärmen, an den Tag zu erinnern und das Mondlicht vergessen zu lassen, das über ihnen ferne Wolkenwelten an den Himmel malt, mit silberrandigen Bergen und Ebenen, die Erlösung vom harten Alltag versprechen. Dahl setzt die verlorenen Feuer so, dass man diese Härte zu spüren glaubt. Die Masten, schwarz in all dem Silberlicht, sprechen von Alltag und Menschenwelt. War das Nachtfischen schon damals verboten und der Mond konnte zum gefährlichen Verräter werden? Heute ist die Elbe der an Fischarten reichste Fluss Europas. Was fing man damals? Aal, Zander und Karpfen, nächtliche Jäger wie die Fischer? Viele Flüsse waren 1823 noch kein so gezähmtes Wasser wie in unseren Zeiten, wo Flüsse begradigt und von scheinbar nutzlosen Seitenarmen befreit zu schiffbaren Transportwegen reduziert sind. Allerdings war die Rheinbegradigung bereits in Angriff genommen worden. Es starben dabei alle Lachse, weil der Fluss nicht nur schneller, sondern auch wesentlich kälter wurde. Und mit den Lachsen verschwanden Dörfer und unzählige Handwerke, die im Schilf und an den unbegradigten Ufern zuhause waren. Die deutsche Landschaft, auch da, wo sie uns am romantischsten vorkommt, ist menschengemacht.
Die Sehnsucht nach der Natur, die Angst vor ihr, die erste Ahnung, dass die Wildnis Europa vielleicht für immer verloren geht … all das waren zentrale Themen des 19. Jahrhunderts und der Romantik. Wie sein englischer Zeitgenosse John Constable widmete Dahl dem Himmel auf seinen Bildern ebenso viel Aufmerksamkeit wie der Erde. ‚Es war als hätt der Himmel die Erde stumm geküsst…’ Nicht nur Eichendorff sah die beiden als Liebende. In vielen Schöpfungsmythen ist der Himmel das männliche und die Erde das weibliche Prinzip. Bei den Maori müssen die Kinder ihre welterschaffenden Eltern voneinander trennen, damit sie die Welt, die sie erschaffen haben, nicht zwischen sich im Liebesakt ersticken, und seither weint der Himmel Regentränen, und die Erde bedeckt sich in ihrer Trauer mit Tau. Aber vielleicht sind die Menschen, die Dahl dadurch zeigt, dass er Masten und Feuer malt, zu erschöpft von der Arbeit, die ihre Tage ihnen abverlangen, um zum Himmel aufzublicken, über die Erschaffung der Welt nachzusinnen oder sich von dem Silber, das der Fluss ihnen vor die Füße schwemmt, zum Träumen verführen zu lassen.
Johan Christian Dahl hatte wie Caspar David Friedrich den Anspruch, in seinen Landschaftsbildern auch die Geschichte dieser Landschaft abzubilden, ihre Vergangenheit ebenso wie ihre Gegenwart. Dresdens Zukunft, zerbombt und brennend, ist noch mehr als ein Jahrhundert entfernt, als er die Elblandschaft mit Öl auf Karton bannt. Europa erfindet sich immer noch neu nach Napoleons Niederlage. Die Französische Revolution liegt kaum dreißig Jahre zurück. Amerika wird von vielen wohl immer noch als die rebellische Kolonie gesehen, die sich von ihrem Mutterland losgesagt hat, und die Idee eines deutschen Staates klingt in Sachsen vermutlich ebenso unrealistisch wie in Preußen. Norwegen hat vor kaum neun Jahren seine Unabhängigkeit von Dänemark erklärt, und Dahl zieht mit seiner Familie in dem Jahr, in dem er die mondversilberte Elbe malt, in ein Haus, das er sich mit Caspar David Friedrich und dessen Familie teilt. Sammler bestellen gern Bilder von beiden Malern, da sie sich an ihren Wänden ebenso gut ergänzen und vertragen, wie die beiden Männer es tun.
Es vergehen vier Jahre, bis die Schicksalsschläge beginnen. Der Tod seiner ersten Frau im Kindbett, der Verlust zweier Kinder durch Scharlachfieber und schließlich der Tod seiner zweiten Frau, ebenfalls bei der Geburt eines Kindes. Die Welt kann ein dunkler Ort sein und das Mondlicht spricht von beidem, vom Licht und von der Dunkelheit.
Über die Autorin
Cornelia Funke wurde 1958 in Dorsten geboren. Die Diplompädagogin lebt heute in Malibu. An der Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg studierte sie Buchillustration. Ihre Romane – darunter Herr der Diebe, Tintenherz, Drachenreiter, Reckless. Steinernes Fleisch – erreichten bislang eine Gesamtauflage von 27 Millionen Exemplaren. Ihre jüngste Veröffentlichung Das Labyrinth des Fauns entstand zusammen mit Guillermo del Toro. Das TIME Magazine zählte Cornelia Funke 2005 zu den 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten.