400 Jahre Zeitreise: fahnenbild 11 von Pia Fries
Heute haben wir es mit einem echten Schwergewicht der zeitgenössischen Malerei zu tun: Pia Fries, eine sehr erfolgreiche aktuelle Künstlerin. Ihr Werk in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe wirft viele Fragen auf: Wieso versetzt uns Pia Fries‘ Kunst in eine Zeitreise 400 Jahre zurück? Was genau macht ihre Malerei so besonders? Und was für eine erstaunliche Überraschung versteckt sich in dem Bild, um das es heute geht? In der Kunsthalle Karlsruhe befindet sich das fahnenbild 11 aus dem Jahr 2010. Pia Fries hat es also vor gar nicht langer Zeit gemalt, heute geht’s um topaktuelle Kunst. Also, labere ich gar nicht lang, let’s go!
Der Kunstsnack – Kurze Facts leicht bekömmlich. Von der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe mit dem Comedian und Kunsthistoriker Jakob Schwerdtfeger.
Das Werk dieser Folge ist sehr, sehr schwierig zu beschreiben, deshalb bitte ich euch von Herzen: Schaut mal kurz in die Shownots zu diesem Podcast. Da ist ein Link zu Abbildung. Dann habt ihr das Bild vor Augen und erleichtert mir die Arbeit. Aber hey, ich beschreibe es euch das Werk natürlich jetzt trotzdem, weil… ich das bei Kunstsnack immer so mache.
Was gibt‘s hier zu sehen? Bildliche Beschreibung
Das fahnenbild 11 von Pia Fries ist groß: 2,20m hoch, 1,70m breit. Und es ist abstrakt. Ganz ehrlich: Als ich das Bild das erste Mal gesehen habe, dachte ich: „Oh, das sieht aber irgendwie unfertig aus.“ Denn mindestens die Hälfte der Malfläche ist leer, also einfach weiß. Das ist im ersten Moment überfordernd, denn wir sind bei Gemälden gewohnt, dass die gesamte Leinwand bemalt ist. Aber wer sagt eigentlich, dass das immer so sein muss? Pia Fries sieht das offenbar anders.
Auf ihrem Bild aus Karlsruhe sind drei große abstrakte Elemente, das sind jeweils in sich verschlungene Formen und die erstrecken sich über das Bild. Dadurch, dass um die drei Formen herum alles weiß ist, wirkt es, als wären die Elemente ausgeschnitten – wie eine wild geschnippelte, riesige, abstrakte Collage. Die gemalten Elemente sind voller Farbverläufe und sehen teilweise aus wie Farbflüsse und Farbwasserfälle. Hauptsächlich haben wir es mit den Farben schwarz, weiß, blau, rot und pink zu tun. Mich erinnert das Bild außerdem an Flügel. Die Malerei hat an vielen Stellen etwas fedriges, sieht aus als wäre die Farbe mit dem Spachtel verteilt worden. Dadurch wirkt alles wie aufgefächert. Aber statt Federn und Flügel könnten es auch bunte Bremsspuren sein. Hier sind wirklich viele Assoziationen möglich und ihr merkt gleichzeitig, wie schwer ich mich tue, dieses Bild zu beschreiben. Es ist so abstrakt – man kann es deshalb nur bedingt mit irgendwelchen konkreten Sachen vergleichen. Und das ist ja genau das Großartige: Dass das Bild hier vor allem für sich stehen kann und keine eindeutige Darstellung ist. Sondern hier sind vielschichtige Interpretationen möglich – das macht Kunst ja aus.
Was macht das Werk so besonders?
Die Farbe auf dem Karlsruher Gemälde von Pia Fries ist stellenweise richtig dick aufgetragen. Noch ein bisschen mehr und das Bild könnte als Kletterwand durchgehen, an der man sich festhalten kann. „Pastos“ – so nennt man das, wenn die Farbe so dick aufgetragen ist. Pia Fries dürfte ziemlich viel Geld für Farbe ausgeben, so viel ist sicher. Dieser Kontrast aus weißen Leerflächen und fetten Farbflatschen – das ist schon echt besonders. Am liebsten würde man das Bild anfassen, aber das ist natürlich nicht erlaubt.
Generell muss man sagen: Die Malweise von Pia Fries ist faszinierend. Es gibt ein tolles Video über die Künstlerin von der Kunsthalle Karlsruhe. Gebt bei YouTube einfach mal „Pia Fries Kunsthalle Karlsruhe“ ein. Dann findet ihr das sofort. In dem Video sieht man Pia Fries unter anderem in ihrem Atelier. Es ist quasi ein Making-of ihrer Kunst. Die Künstlerin malt viel auf dem Boden. Sie mischt Farben, lässt sie auf den Bildträger fließen oder tropfen. Dann hebt sie die Tafel an, damit sich Farbverläufe bilden. Teilweise schlägt sie das Bild auf den Boden und ruckelt daran, damit Farbpartien wieder abplatzen oder weiter runter sacken. Pia Fries kratzt, spachtelt, pinselt, schneidet die Farbe. Sie benutzt dafür Kämme, Rechen, Palettmesser und Spachtel. Pinsel kommen bei ihr eher seltener zum Einsatz. Der Künstlerin geht es ganz viel um das Eigenleben der Farbe, um Bewegung und Dynamik. Das Bild wird zu einer Art Spielplatz für die Farbe. Die Künstlerin selbst sagt in dem YouTube-Video: „Ich versuche der Farbe zu gehorchen.“
Pia Fries geht bei ihrer Arbeit sehr gezielt vor und gleichzeitig arbeitet der Zufall mit. Wenn man die Künstlerin malen sieht, wirkt es auf mich, als würde sie einem Geheimrezept folgen, das nur sie kennt. Pia Fries ist damit quasi wie Miraculix, sie ist Miraculix der Malerei.
Wie wurde das Werk beeinflusst? Interessante Inspirationen
2010 hatte Pia Fries eine Ausstellung in der Kunsthalle Karlsruhe. Dafür kreierte sie eine neue Werkreihe mit insgesamt 11 Arbeiten. Das ist schon toll, wenn so eine bekannte Künstlerin für eine Ausstellung einen ganzen Werkzyklus quasi maßschneidert. Alle 11 Bilder beziehen sich dazu noch auf die Kunsthalle Karlsruhe – genauer gesagt auf ein ganz bestimmtes Werk aus der Sammlung dieses Museums: und zwar auf den Der Fahnenschwinger von Hendrick Goltzius aus dem Jahr 1587. Eine Abbildung zu dem Werk findet ihr übrigens auch in den Shownotes. Wer war Hendrick Goltzius? Er war ein bedeutender Kupferstecher. Ihr kennt diesen Beruf aus der Redewendung „Mein lieber Freund und Kupferstecher“. Das hat mein Opa früher gerne zu mir gesagt, wenn ich irgendwelchen Unsinn gemacht hab – also im Prinzip die ganze Zeit.
Ok, aber was ist eigentlich ein Kupferstich? Es handelt sich dabei um ein Druckverfahren. Beim Kupferstich wird das Motiv in eine Kupferplatte geritzt. Diese Vertiefungen werden dann mit Farbe gefüllt und so auf Papier gedruckt. Der Fahnenschwinger von Goltzius ist ein solcher Kupferstich. Er zeigt einen jungen Mann mit einer gigantischen Fahne, die einen Großteil des Motivs einnimmt. Der Faltenwurf des Fahnenstoffs scheint richtig im Wind zu wehen. Licht und Schatten lassen alles super plastisch wirken. Das ist extrem beeindruckend, vor allem wenn man bedenkt, dass das alles mit winzigen Strichen gemacht wurde. So funktioniert ja ein Kupferstich und der von Hendrick Goltzius ist über 400 Jahre alt. Pia Fries hat dieses Werk in der Kunsthalle Karlsruhe gesehen und es hat sie sehr inspiriert. Man merkt das ja schon am Titel ihres Gemäldes fahnenbild 11.
Wie genau hat Pia Fries das Werk von Hendrick Goltzius aufgegriffen? Sie hat Teile des Kupferstichs in ihr Werk integriert. Sie hat einzelne Fahnen-Fragmente von Goltzius genommen, vergrößert und auf ihr Bild gedruckt. Anschließend hat sie da drum herum und drüber gemalt. Man kann Malerei und schwarz-weiß-Druck des Kupferstichs teilweise kaum auseinanderhalten. Die Fahnen-Fragmente werden von Pia Fries ganz organisch in ihr Bild integriert.
Wenn man das alles mit Goltzius und seinem Fahnen-Werk allerdings nicht weiß, checkt man diese ganzen Bezüge gar nicht. Und selbst wenn man es weiß, muss man bei Pia Fries erst mal die Stellen suchen, an denen man Ausschnitte der Kupferstich-Fahne sieht. Die Fahnen-Falten werden komplett aus ihrem eigentlichen Kontext herausgelöst. In dem fahnenbild 11 von Pia Fries wirken die Fahnenteile plötzlich abstrakt. Das ist kein Faltenwurf mehr, das sind einfach nur Formen in schwarz-weiß, einfach nur Striche, die nichts Konkretes mehr darstellen.
In der Kunsthalle Kalrsruhe trifft eine Druckgrafik von 1587 auf zeitgenössische Malerei von 2010. Alt meets aktuell. Eine spannende Zeitreise und ein großartiges Beispiel dafür, wie Kunst wiederum Kunst beeinflussen kann. Mich erinnert das Ganze auch ein bisschen an das musikalische Prinzip des Samplings. Versatzstücke aus einem Lied nehmen und daraus einen neuen Song machen. Pia Fries, eine DJane der Kunst!
Ihr seht, was für spannende Bezüge sich in der Sammlung der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe finden lassen. Da gibt’s viele Schätze zu entdecken und genau dafür ist Kunstsnack ja da. In zwei Wochen geht’s direkt um das nächste Meisterwerk, bis dahin folgt doch gern diesem Podcast. Macht’s gut, Ciao.
Das war der Kunstsnack – Kurze Facts leicht bekömmlich. Mit Jakob Schwerdtfeger. Eine Produktion der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Abonniert unseren Podcast und folgt uns bei Instagram. Habt Ihr Themenwünsche, schreibt uns via Directmessage oder per Mail an digital@kunsthalle-karlsruhe.de.