Narben ohne Farben: schwanger von Annegret Soltau

1978 war ein bewegtes Jahr mit vielen wichtigen Ereignissen: Das Videospiel „Space Invaders“ erblickt das Licht der Welt. Endlich wird ein großes Bedürfnis der Menschheit erfüllt: Aliens abknallen. Außerdem entsteht die Comicfigur „Garfield“, mit Garfield wird Faulheit endlich so richtig salonfähig. Und im Jahr 1978 entsteht ein wichtiges Kunstwerk, das sich in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe befindet. Es ist ein Kunstwerk mit einer sehr, sehr spannenden Technik und starkem Inhalt. Das Werk trägt den Titel „schwanger“ und stammt von der Künstlerin Annegret Soltau. Bei dem Namen denke ich leider direkt an die Radiowerbung „Heidepark Soltau“ – „Annegret Soltau“. Sorry, das hat sich mir als Kind einfach ins Hirn gebrannt, aber so könnt ihr euch den Namen merken. Die Arbeit von Annegret Soltau ist ein echtes Ausnahmewerk und das schauen wir uns jetzt mal näher an. Viel Spaß!

Intro

Schaut euch das Werk der heutigen Folge gerne an, denn es ist wirklich ungewöhnlich. In den Shownotes findet ihr einen Link zur Abbildung.

Was gibt‘s hier zu sehen? Bildliche Beschreibung

Der Titel dieses Kunstwerks hält, was er verspricht: „schwanger“. Und genau das sehen wir, das Schwarz-Weiß-Foto einer schwangeren Frau. Es ist die Künstlerin selbst, sie ist nackt. Wir sehen sie von der Seite bis etwas unterhalb der Brüste, einen Teil von ihrem schwangeren, runden Bauch kann man noch erkennen. Ok, das klingt jetzt erst mal nicht so außergewöhnlich. Aber was dieses Werk so besonders macht: das Foto ist zerrissen, die Frau wurde mehr oder weniger entlang ihrer Silhouette herausgerissen. Es sieht ein bisschen so aus wie früher, wenn man auf Leute wütend war und die aus Gruppenfotos entfernt hat. Und dann hatte irgendjemand auf dem Foto noch so eine herrenlose Hand auf der Schulter.

Allerdings hat Annegret Soltau den herausgerissenen Teil wieder in das Foto eingefügt und mit Fäden angenäht. Es ist also ein geflicktes Foto. Das Ganze erinnert an eine riesige Narbe in Fotoform. Eine Narbe ohne Farbe, denn das Foto ist ja schwarz-weiß. Wieso zerreißt jemand ein Foto, um es dann wieder zusammen zu nähen? War das hier ein eskalierter Bastelkurs? Oder hatte die Künstlerin einen Wutanfall und hat danach alles bereut? Ich erläutere euch jetzt einfach mal den Hintergrund.

Worum geht’s hier eigentlich? Die Message

1978 war Annegret Soltau mit ihrem ersten Kind schwanger. Das war für eine feministische Künstlerin in den 70er Jahren keine Selbstverständlichkeit. Einige Künstlerinnen wie Marina Abramovic entschieden sich gegen das Mutter-Sein. Sie wollten ihre kreativen Karrieren komplett durchziehen und keine Kinder haben. Es stellten sich für Annegret Soltau existenzielle Fragen: Kann ich weiter Kunst machen mit Kindern? Wird meine Karriere darunter leiden? Die Künstlerin fühlte sich unter Druck gesetzt, sich entscheiden zu müssen. Sie fühlte eine Zerrissenheit, die sich möglicherweise in dem zerrissenen Foto widerspiegelt. Der Riss kann für die kommenden Schmerzen stehen oder für das Abschiednehmen vom kinderlosen, bisherigen Leben. Also für den Cut, den die Elternschaft auf bedeutet. Der Riss kann aber auch für Trennung stehen oder für traumatische innere Wunden.

Allerdings wird der Riss auf dem Foto ja auch mit einem Faden wieder genäht. Es könnte hier also auch um Verbundenheit gehen, um geheilte innere Narben, um die positiven Seiten der Mutterschaft. Selten haben ein Fotoriss und ein Faden so viele Bedeutungsebenen aufgemacht und deshalb ist das Bild für mich im wahrsten Sinne „bedeutungsschwanger“ – kleines Wortspiel. Annegret Soltau selbst sagte über den Einsatz von Fäden in ihrer künstlerischen Arbeit (ich zitiere): „Der Faden bedeutet aber auch etwas Verbindendes, Reparierendes, was die Risse zusammenbringt und –hält. Die Risse im Lebenslauf bleiben sichtbar wie die Falten als Lebensspuren.“ Mit Mitte 30 kann ich bestätigen: Jap, stimmt, die Falten bleiben…

Es geht bei dem Werk „Schwanger“ aus der Kunsthalle Karlsruhe also um die zwei Seiten der Schwangerschaft und Mutterschaft. Um die Ups and Downs. Annegret Soltau zeigt auf dem Foto, wie sich ihr Körper verändert. Schwer lasten ihre Brüste auf ihrem prallen Bauch, die Hände hat sie ins Kreuz gestemmt, um ihren Rücken zu entlasten. Annegret Soltau war eine Vorreiterin der sogenannten Body Art, das heißt sie arbeitete in der Kunst auf vielfältige Weise mit ihrem Körper und machte ihn auch selbst zum Thema.

Auf dem Foto “schwanger“ thematisiert Annegret Soltau die Veränderungen ihres Körpers – und das in den 1970ern. Bis heute werden Frauen mit Schönheitsidealen unter Druck gesetzt und ihr Körper andauernd kommentiert. Man muss ja nur ein Mal in Kommentarspalten auf Social Media schauen, wenn irgendwo Frauen auf Fotos oder in Videos zu sehen sind – das ist teilweise echt gruselig. Sogar in sachlichen Zeitungsartikeln von seriösen Zeitungen wird bei Frauen weiterhin regelmäßig das Aussehen thematisiert und sei es nur ein Adjektiv wie „die schöne Schauspielerin so und so“ – bei Männern ist das fast nie der Fall – müsst ihr mal drauf achten. Der weibliche Körper ist ein Politikum. Heutzutage merkt man das an Musikstars wie Shirin David, die sich ihren Körper hat operieren lassen und alle diskutieren darüber. Alle haben eine Meinung zu ihrem Körper. Annegret Soltau bringt dieses Thema schon in den 1970ern auf den Tisch. Aber wie kommt sie darauf, ein Foto zu vernähen? Dafür erläutere ich euch mal die Einflüsse..

Wie wurde das Werk beeinflusst? Interessante Inspirationen

Das Werk „schwanger“ aus der Kunsthalle Karlsruhe ergibt sich auch recht logisch aus ihrem vorigen Schaffen. Kurz zur Erinnerung: Das Werk dieser Folge stammt aus dem Jahr 1978. Es war nicht das erste mal, dass Soltau Garn benutzte, schon in den frühen 70er Jahren fing sie damit an. Gewissermaßen umgarnte Menschen, denn sie umwickelte Menschen mit Garn. Ein bisschen so wie einen ja auch Hunde gerne in der Leine verheddern, wenn sie freudig um einen herum laufen. Teilweise umwickelte Soltau die Leute mit so viel Faden, dass die Gesichter fast wie Strumpfmasken aussahen. Das sieht echt schmerzhaft aus, aber war es wohl nicht. Die Künstlerin verband Menschen mit Fäden, und auch hier hatte der Faden etwas Verbindendes. Es gibt auch Performances von ihr, bei denen sie sich selbst mit Fäden umwickelte und wieder davon befreite. Entfesselungs-Zaubertricks hatte Annegret Soltau auch drauf. Mitte der 1970er Jahre entstehen umhüllt sie dann Selfies mit grauem Faden. Bis zur Fotovernähung ist es dann nicht mehr weit. Das ist übrigens eine Technik, die Annegret Soltau erfunden hat, nur um das noch mal hervorzuheben. Warum sie gerne mit Selfies oder mit ihrem eigenen Körper arbeitete, bringt ein Zitat der Künstlerin gut auf den Punkt: „Ich nehme mich selbst zum Modell, weil ich mit mir am weitesten gehen kann.“ – starkes Zitat!

Aber es gibt möglicherweise noch einen anderen, sehr kuriosen Einfluss auf die Fotovernähungen: Annegret Soltau begann ihre berufliche Laufbahn unter anderem als Arzthelferin in einer Unfallpraxis. Hier hatte sie auch immer wieder mit dem Nähen von Wunden zu tun. Und schon als Kind war ihr dieses Thema geläufig: Soltau wurde 1946 geboren und wuchs auf einem landwirtschaftlichen Hof auf. Hier musste sie für die Wurstherstellung die Därme zusammennähen. Ihr merkt, das sind jede Menge Einflüsse, auch ein paar ungewöhnliche.

Wer hätte das gedacht? Faszinierender Funfact

Mitte der 1980er Jahre beginnt der berühmte Künstler Andy Warhol ebenfalls mit Fotovernähungen, er näht mehrere Fotos aneinander und nennt das Ganze „Stitched Photographs“. Aber man muss klar sagen: Gut 10 Jahre vorher war Annegret Soltau die Erste. Sie hat mit den Fotovernähungen einfach eine neue Technik erfunden. Also: „Sorry Andy, you are not that trendy.“

Bei Annegret Soltau merkt man: Das ist ein künstlerisches Schaffen mit einem rotem Faden – auch wenn der in der Kunsthalle Karlsruhe schwarz ist. Ich hoffe, euch hat die Folge gefallen. Abonniert gerne kostenlos diesen Podcast. Und dann hören wir uns in zwei Wochen wieder mit einer neuen Folge Kunstsnack. Bis dann, Ciao.

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