re*vision von Natasha A. Kelly zu Ernst Ludwig Kirchner: Milly, Nelly und Sam, Erste Hälfte 20. Jh.
Dresden rauscht. Straßenbahnen quietschen in der Ferne. Pferdekutschen rumpeln über nasses Pflaster an uns heran. Unter der Kuppel liegt der Geruch von Sägemehl, Tier und kaltem Rauch. Stimmen schwellen an, ein erwartungsvolles Murmeln bringt die Luft zum Stillstand. Trommeln setzen ein, treiben uns in die Manege. Vibrationen mischen sich mit dem süß-schweren Duft von altem Parfüm. Das elektrische Licht flackert auf, brennt heiß auf unserer Haut. Es zeigt uns und wirft zugleich dunkle Schatten.
Milly, Nelly und Sam, so nennt er uns, während sein Stift über das Papier jagt. Kohle kratzt, Linien flammen auf. Sein Blick hängt gierig an unseren Körpern, an der Spannung unserer Muskeln, am Glanz des Schweißes, am Pochen unserer Adern. Er fiebert, als könne er das, was ihn erregt, in Strichen bannen. Jeder Schwung ist ein Rausch, ein Griff nach dem Ursprünglichen. Doch er sieht nicht uns. Er sieht nur Umrisse, die er in seine Welt einschreibt.
Wir tanzen. Wir lachen. Wir schwitzen. Schlag um Schlag, Takt um Takt. Doch hinter dem Lachen verbirgt sich eine bittere Wahrheit: Unsere Körper sind unser Kapital, unser Leben längst dem Rhythmus verschrieben. Nicht aus Leidenschaft, sondern aus Notwendigkeit. Während unser Atem stockt, eignet er sich unsere Bewegung an. Wir werden zu Linien, zu Projektionen, zu einer Fantasie, die nicht die unsere ist.
Das Licht erlischt, der Stift hält inne. Doch die Zurschaustellung endet hier nicht. Sie setzt sich fort in den Straßen, in den Blicken, in den Bildern, die der Zeitgeist von uns verlangt. Unser Tanz gilt nicht allein dem Publikum, er folgt dem Takt einer sozialen Ordnung, die längst entschieden hat, wer wir sind und sein dürfen. Fortschritt und Größe hallen durch das Reich, Militärrommeln schlagen lauter als unsere Stimmen. In der Manege sind wir ihr Echo: ein Spektakel, das den Hunger nach dem Fremden stillt.
Und während er zeichnet, während Linien unsere Körper ersetzen, tragen wir unsere Stimmen weiter. Leise vielleicht, doch ungebrochen. Denn wir sind mehr als Schatten auf Papier. Wir sind Milly, wir sind Nelly, wir sind Sam. Unsere Namen klingen weiter, unser Atem trägt durch die Zeiten, unser Widerstand bleibt lebendig. Selbst wenn die Kunst uns verschluckt, bleibt unser Dasein ein Riss im schönen Schein, ein Flüstern im Getöse der Manege, das nicht im Ausdruck des Expressionismus verstummt.
Natasha A. Kelly
Gastprofessorin für Kulturwissenschaften am Studium Generale der Universität der Künste Berlin. Gründungsdirektorin des ersten deutschen Instituts für Schwarze Kunst, Kultur und ihre Wissenschaften, gefördert vom Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt Düsseldorf. Co-Direktorin des Black European Academic Networks (BEAN) Mitglied im internationalen Künstler*innenkollektiv des Black Speculative Arts Movement (BSAM).
Auf der Suche nach dem Schwarzen Modell Milli in Ernst Ludwig Kirchners Gemälde Schlafende Milli (1911), das sich in der Sammlung der Kunsthalle Bremen befindet, gestaltete Natasha A. Kelly ein mehrteiliges, multimediales Projekt auf Basis ihrer Forschung mit einem Dokumentar- und zwei Kurzfilmen, einer Publikation, einem Visual Essay sowie einer Gruppenausstellung mit begleitendem Katalog.