Für Kafka und meinen toten Bruder
Beschreibung
Eine Fassade, weiß gekalkt, aber dennoch wird das Mauerwerk hier und da sichtbar. Es ist roh, voller Schrunden, alles andere als glatt, eher in die Jahre gekommen. Diese Wand ist ein malerisch bewegtes Relief aus pastos aufgetragener Farbe – Ocker, Weiß, Grau, Braun, mit breitestem Pinsel oder dem Spachtel mit hohem Tempo und Körpereinsatz auf die großformatige Leinwand gebracht. Artur Stoll liebte die Farbe als Materie geradezu obsessiv. Er modellierte seine Motive mit ihr – ob Blumen, Hasen oder Gerätschaften aus dem bäuerlichen Alltag.
Er kam aus einem ländlichen Umfeld und lebte in ihm auch nach seinem Studium bei Peter Dreher, Franz Bernhard und Horst Antes an der Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe. Artur Stoll de Norso nannte sich der früh sehr erfolgreiche Künstler. 1974 erhielt er den Villa Romana-Preis Florenz, 1977 war er Gast in der Villa Massimo in Rom. Es folgten der Preis des „Forums junger Kunst ‘79“, und der Reinhold-Schneider-Preis der Stadt Freiburg im Jahr 1988.
In dem Gemälde, das er im Titel dem Dichter Franz Kafka und seinem toten Bruder widmet, ist das suggestive Zentralmotiv in der Wand ein windschiefes Fenster. Der Blick auf dieses geht jedoch nicht hindurch, sondern trifft auf tiefes Schwarz, reine Finsternis. Franz Kafka als Dichter des fatalen Absurden steht für eine sensible Künstlerpersönlichkeit, die ihr Werk seelischen Verletzungen abtrotzte. Artur Stoll, der ein Mensch von ebenso großer Bildung wie Verletzlichkeit und Sensibilität war, könnte in ihm einen Seelenverwandten gesehen haben. Als Epitaph ruft sein Bild aber tatsächlich auch einen familiären Schicksalsschlag in Erinnerung. Im Jahr 1945, zwei Jahre vor Artur Stoll, kam sein Bruder Klaus zur Welt. Das Kind erkrankte und starb kurz Zeit nach seiner Geburt.
Ein Blick in die Vergangenheit
0:00
0:00
Mit pastosem Pinsel gibt Artur Stoll eine weiß gekalkte Fassade wieder. Es entsteht ein malerisch bewegtes Relief. Geradezu modelliert wirkt die von Witterung und Zeit gezeichnete Wand und lässt erkennen, welchen körperlichen Einsatz der Künstler im Malprozess geleistet hat.
Das Fenster, im oberen Bildteil, ist mit breitem Pinsel braun umrahmt. Die mit geradem Pinselstrich gezogenen Balken heben sich vom unruhigeren Farbauftrag der Fassade ab und lenken den Blick umso mehr auf das Fenster.
Doch anstatt des Hausinneren sehen wir nur tiefes Schwarz, einen unbeleuchteten, dunklen Raum. Die Funktion eines Fensters als Öffnung, die Ein- oder Ausblick ermöglicht, ist hier also nicht gegeben, vielmehr wird unser Blick blockiert.
Rückkehr in die Heimat
Im Jahr 1984 bezog Stoll den Stall als Atelier in Norsingen, dem Ort seiner Kindheit. Das einfache Gebäude, das zu seinem Elternhaus gehörte, bannte er immer wieder auf die Leinwand. Mit einem spitzen Gegenstand, vielleicht der Rückseite des Pinsels, kratzte der Künstler am oberen Rand dieses Bildes den Titel des Werkes in die noch feuchte Farbe: Für Kafka und meinen toten Bruder.
Eine Referenz auf Kafkas Introspektionen
Für den Schriftsteller Franz Kafka sind Fenster oftmals Sinnbilder innerer Einkehr. Sie können eine Öffnung zur Außenwelt darstellen, aber auch Zeichen von Melancholie sein, insbesondere wenn der erhoffte Ausblick verwehrt bleibt.
Das Werk lässt sich als Epitaph lesen, denn Artur Stoll verweist mit der Widmung an seinen Bruder auf einen schweren familiären Schicksalsschlag. Sein zwei Jahre älterer Bruder Klaus verstarb bereits kurz nach der Geburt, sodass sich die Geschwister nie kennenlernten. Über den Verweis auf die Architektur der Kindheit schafft Stoll eine Brücke zu Ereignissen, die in seiner Abwesenheit an diesem Ort geschahen.
Daten und Fakten
| Titel | Für Kafka und meinen toten Bruder |
|---|---|
| Künstler*in | Artur Peter Stoll |
| Entstehungszeit | 1986 |
| Inventarnummer | Lg 1909 |
| Maße Bildträger | H 188,0 cm B 201,0 cm T 3,5 cm |
| Maße Transportrahmen | H 192,5 cm B 203,5 cm T 8,0 cm |
| Material | Leinwand |
| Technik | Ölfarbe |
| Gattung | Gemälde |
| Abteilung | Neue Malerei (nach 1800) |
Zu den wiederkehrenden Motiven Artur Stolls gehört der Stall seines Hauses in Norsingen, der ihm als Atelier diente und auf den auch dieses Werk zurückgehen könnte. Stoll nannte ihn in einem anderen Werk den „Dürer-Stall“ und setzte auch das „Haus des Malers“ ins Bild.