Detail des Porträts einer älteren Dame mit einer mittelalterlichen weißen Kopfbedeckung.
Niederländischer Meister: Bildnis einer älteren Frau

Brigitte Kronauer

Die Haubentaucherin

Doris Wolters liest Brigitte Kronauer
Mit freundlicher Unterstützung von Linon. Medien für Museen.
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Wie gerät eine so offensichtlich vernünftige Person, die fast schon als Furie der Nüchternheit aufritt, nur an eine so schräge Kreation!

Selbst in den Augen derer, die, wie ich, eine Nonnenschule besucht haben und bis heute zur Aufheiterung gelegentlich in einem alten Buch mit Trachten blättern, also an allerhand bizarre Kopfbedeckungen gewöhnt sind, müßte diese, fast möchte man sagen, hypertrophe Trophäe den Vogel abschießen. Sie hockt, wenn nicht als Karikatur, dann als ausgeschlüpfte Seele auf dem Scheitel der Unbekannten. Anders als bei der Schwarzwaldbäuerin aus Oberharmersbach und der Bückeburgerin in meinem Buch assoziiert man – entweder zur Entmutigung des Gegners oder als Imponiergehabe bei der Balz – gesträubtes Gefieder. Aggression, Angst, Brunft sind Stimmungen, in denen auch sonst stilsichere Tiere vorübergehend das Groteske nicht scheuen. In dieser Haube aber, die das lebendige Fleisch als geöffnete Schere umklammert, wurde es verblüffender Dauerzustand.

Denn natürlich kommt es auf das eigensinnig gefältelte Institutsvorsteherinnengesicht an, das der Maler nicht mit der bescheidenen Halskrause, sondern mit der waghalsigen Haubenkonstruktion auf den imaginären Präsentierteller legt. Handelt es sich um eine beabsichtigte, aber nur oberflächliche Ablenkung von deutlichen Altersanzeichen? Der Kontrast zwischen Antlitz und alterslos glatter Haube ist jedenfalls riesig. Alles, was der Künstler hier behauptet, widerruft er dort. Über den mißtrauischen Blick, den zusammengepreßten Mund, über das Bittere und Gestrenge, die Welt Zurechtweisende und auf Würde Beharrende seiner Trägerin scheint sich der Kopfputz, der einer jungen Hübschen den Reiz des Kapriziösen verliehe, lustig zu machen. Sollte er etwa eine individuelle Kampfansage an die Gesellschaft sein? Oder, im Gegenteil, die Unterwerfung unter deren Mode und Bräuche?

Das Dissonante erstreckt sich bis in die perspektivische Behandlung der Flügel und setzt sich auf dem Bildnis jener anonymen Einundsechzigjährigen aus dem Jahre 1572 in dem Umstand fort, daß man ihr Porträt um hundert Jahre durch gefälschte Zahl nachträglich verjüngte. Die Haube jedoch verbürgt schon aus der Entfernung die Geschlechtszugehörigkeit des Modells. Man müßte an ihr, da so wenig von deren üblichen Signalen übriggeblieben, also altersspezifisch so vieles davon entschwunden ist, andernfalls zweifeln. Es könnte sich ganz gut um einen pedantischen, mit feinen Zügen ausgestatteten Buchhalter jener Zeit handeln, dem man unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, womöglich der einer Ehrung, diese Lächerlichkeit auf den Kopf gesetzt hat. Das mag überhaupt Sinn der Haube sein: Der Trägerin, ob sie sich in Zorn auf die feminine Verpflichtung zu Sittsamkeit wie zu maßvoller Koketterie befindet oder nicht, ist sie offiziell gebilligter Ersatz, garantiertes Symbol ihrer Weiblichkeit. Für den Beobachter, der sich nicht darauf einläßt, stellt sie allerdings eine kontraproduktive Warnung dar: Keiner komme mir zu nahe!

Aber wenn es sich nun ganz anders verhielte? Wenn diese nach der damaligen Tradition „alte Frau“ ihren Mann, falls sie einen hat, mit dem Aufbau weder einschüchtern noch optisch foltern will, sondern, in rührend ungeschicktem Bemühen und gegen die eigenen Zweifel, es könnte wirklich gelingen, hofft, ihn noch einmal, ein letztes Mal, durch dieses Blendwerk zu betören? Würde das nicht die schon im Voraus nach einer Kränkung spähenden Augen erklären, Augen einer Hausfrau, die ihrer Familie das verkorkste Essen serviert und ausgerechnet durch eine grimmige Miene auf dem Gelingen zu bestehen versucht, noch bevor Kritik geäußert wurde?

Falls man das bei dieser niederländischen „Greisin“ aus dem 16. Jahrhundert für eine frivole Unterstellung hält, vergesse man nicht, daß eine gewisse Diane de Poitiers – der ihr Geliebter, jener mit Katharina von Medici verheiratete Heinrich II., das berühmte Loire-Schloß Chenonceau schenkte –, fast zwanzig Jahre älter war als der König, also circa sechzig und noch immer Mätresse de titre, als er starb. Diane ist Zeitgenossin der Haubendame, ja sogar mindestens 10 Jahre früher geboren! Als ehernes Schicksal fungierte das Alter auch damals bereits nicht für die besonders Willensstarken unter den Frauen, und zur Schicht jener Beklagenswerten, deren Ehemänner sie zusammen mit der Kuh vor den Pflug spannten und wie diese bei mangelnder Leistung mit Fäusten und Stöcken schlugen, gehörte unsere hier sicherlich nicht.

Man versuche sich stattdessen vorzustellen, ihr Mann hätte Humor und sie, seine Gattin, besäße die seltene Fähigkeit, mit ihm gemeinsam über sich und die fatale Takelage zu lachen. Das könnte sogar die ihn neu bezirzende Wunderwaffe sein. Allerdings glaube ich hier selber nicht recht dran.

Und doch hat der Maler, auch er anonym, in dieses Frauengesicht eine Spur gelegt. Exakt wie Haube und Gesicht erst im Zusammenspiel ihre heikle Wirkung erzielen, so geht es zwischen Mund und Augen zu. Betrachtet man beide für sich, taucht unter dem scheinbar härenen Charakter und den Verfinsterungen eines desillusionierten weiblichen Lebens allmählich ein anderes Wesen auf, das ursprünglichere, noch nicht von Ernüchterungen gezeichnete und verhärtete.

Die nach wie vor empfindliche, helle Haut, die je länger man hinsieht sanfter, beinahe zaghaft blickenden Augen, die geschwungenen Lippen gehörten schließlich fünfzig Jahre früher einem Kind, das plötzlich nicht mehr undenkbar ist, nein, ganz und gar nicht, und fünf Jahre später einem jungen, erwachenden Mädchen. Bevor die Fröste des Lebens über das Geschöpfchen kamen und damit, in Wellen, eine wachsende Erkältung und schließlich, da es offenbar schneidend wurde, die endgültige Panzerung für das Überleben unumgänglich schien, hat alles vermutlich harmonisch zusammengepaßt. Augen und Mund drückten eine Erwartung aus, die gewiß nicht eine des politischen Ehrgeizes, der Entfaltung von Anlagen zu Machtausübung und Intrigantenunwesen war, dafür aber die eines verwundbaren, wer weiß, ungestüm auf Erfüllung seiner aufblühenden Liebessehnsüchte hoffenden, keineswegs Rühr-mich-nicht-an-Gemüts.

Portrait einer älteren Dame mit einer mittelalterlichen weißen Kopfbedeckung.
Niederländischer Meister: Bildnis einer älteren Frau

Es muß sich dann anders entwickelt haben. Vielleicht durch einen grobschlächtigen Mann, in dem sich die Frau irrte oder an den sie verheiratet wurde. Vielleicht durch einen bloß einfältigen, der gar nichts merkte von den geheimen Verletzungen, die er ihr zufügte, allein durch das umstandslose Verbrauchtwerden im Alltag des Ehelebens, das viele ihrer Geschlechtsgenossinnen pragmatischer wegsteckten. Weil sie Kinder zur Welt brachten? Hatte sie selber welche? Und wenn ja, halfen sie ihr, über die Enttäuschungen von Herz und Phantasie hinwegzukommen? Sind sie gestorben, mißraten? Gebar sie ein Kind nach dem anderen und wäre viel lieber eine gelehrte Äbtissin, die kundige Bewirtschafterin eines Klostergartens gewesen?

Sie hat die eigentlich schönen Lippen unter dem Regiment eiserner Disziplin über ihrem Geheimnis geschlossen und deformiert. Aber der Blick, der zunächst so argwöhnisch registrierend wirkte, scheint mittlerweile trotz der hochgezogenen Brauenreste und äußerlicher Alarmbereitschaft fast träumerisch nach innen gewandt und nur für den flüchtigen Betrachter so übertrieben zur Vernunft gekommen zu sein.

Nein, die gewöhnliche, im Kollektiv zu bergende Leidensgeschichte des Lebens samt Altersschwarzseherei versteckt sich nicht hinter dieser, sieht man nur gründlicher hin, so davon abweichend formulierten Bitternis.

Was also? Man riskiere einmal, sich auszumalen, jener Don Giovanni, der laut Leporello vor der Verführung alter Frauen nicht zurückschreckte, ließe sich auch hier, als legendärer Könner seines Fachs, gerade durch die Unwahrscheinlichkeit aufstacheln, ließe sich durch die nach bürgerlichem Kodex offensichtliche Geschmacklosigkeit provozieren, dieses vereiste Gesicht noch einmal aufzutauen, es zu erweichen, zu erwärmen für ein heißes Wünschen und durch seine vielerprobten, jetzt besonders geforderten Künste zum erotischen Leuchten zu bringen!

Ich bin überzeugt, er würde nicht scheitern. Er gelänge ihm, das Endergebnis eines weiblichen Weges in die Erstarrung zu revidieren. Und ob er ihr lächelnd die Haube nun als erstes oder allerletztes Kleidungsstück abnehmen würde, beginnen müßte er unweigerlich damit, diese Augen in zutrauliche zu verwandeln, so daß in natürlicher Konsequenz die trotzige Ablehnung aus der schmalen Oberlippe wiche, die dann für die Berührung mit dem wiederentdeckten Leben anschwölle. Er würde zu seinem und ihrem Vergnügen die offiziell vor der Welt allem Zweideutigen so Abholde ohne große Mühe als eine unentdeckt Vieldeutige offenbaren.

Wer gönnte es ihr nicht!

Aber wenn nun ausgerechnet dieser Don Giovanni oder einer seiner Vorläufer derjenige war, der dem jungen Mädchen, das ihm völlig waffenlos begegnete, durch routinemäßige Enttäuschung nach den Entflammung, die sie für jeden möglichen Nachfolger hatte erkalten lassen, eine lebenslange Rüstung der Bitternis anlegte? Die ihr Gesicht einstmals werbend umschließenden Männerhände ersetzte die Verlassene am Ende durch den stumm zeternden Frauenhelm.

Wir können es nur vermuten, da auch für höchst persönliche Schicksalsvorgänge sowie die damit verbundenen Glücksaufwallungen und Kümmernisse den Menschen lediglich eine begrenzte, deshalb mehrfach besetzte Anzahl von mimischen Gesten zur Verfügung steht. Mit anderen Worten: Es droht die Gefahr, sich beim Deuten verflixt zu verkalkulieren.

Das sollte uns Zuschauer nicht hindern, in die Rolle des legendären Verführers zu schlüpfen und uns darin zu üben, wie man es manchmal bei lebendigen, dreidimensionalen Menschenmienen schafft, die tief verborgene Seele aus den zwischen Stirn und Kinn herrschenden Verkrampfungen über ihrem in Trauerschwarz versinkenden Körper zu erkennen und eventuell zu erlösen.

Über die Autorin

Porträt der Autorin Brigitte Kronauer

Brigitte Kronauer wurde 1940 in Essen geboren. Sie schrieb Romane – bei Klett-Cotta erschienen unter anderem Frau Mühlenbeck im Gehäus (1980), Teufelsbrück (2000), Verlangen nach Musik und Gebirge (2004), Zwei schwarze Jäger (2007), Gewäsch und Gewimmel (2013) – Erzählungen und Essays. Zuletzt erschien 2019 der Roman Das Schöne, Schäbige, Schwankende. Sie hatte Poetikdozenturen in Heidelberg, Wien, Leipzig, Zürich und Tübingen. 2005 erhielt sie den Georg-Büchner-Preis, 2011 den  Jean-Paul-Preis und 2017 den Thomas-Mann-Preis. 2019 verstarb Kronauer in Hamburg.

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