Zombie oder Meisterwerk

Auguste Rodin: Schreitender Mann

Manche denken, ein Ferrari oder eine Rolex wären beeindruckende Statussymbole. Ja, schon okay, aber wisst ihr, was wirklich krass ist: Wenn einer der wichtigsten Schriftsteller überhaupt dein persönlicher Sekretär ist. Rainer Maria Rilke war nämlich wirklich einige Monate lang der Sekretär von dem Bildhauer Auguste Rodin. Das ist, als hätte Goethe bei dir ’n Praktikum gemacht. Aber wer ist Rodin eigentlich? Ich erzähle euch, wie dieser Künstler unfassbar berühmt wurde – und zwar mit unfertigen Skulpturen.

Der Kunstsnack – Kurze Facts leicht bekömmlich. Von der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe mit dem Comedian und Kunsthistoriker Jakob Schwerdtfeger.

Heute geht es um Rodins berühmte Skulptur: Schreitender Mann. Das Werk ist um 1900 entstanden und befindet sich in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Eine Abbildung davon findet ihr in den Shownotes, aber ich beschreibe es euch auch einfach mal kurz, damit ihr es vor Augen habt: Die Skulptur ist aus Bronze und etwas weniger als einen Meter hoch. Es handelt sich um eine Figur, die einen Schritt nach vorne geht. Wobei Figur schon echt ein großes Wort ist, denn diese Skulptur hat keinen Kopf und keine Arme. Es hat ein bisschen was von einem Zombie aus einem Ballerspiel. Die Oberfläche der Skulptur, also der Körper ist auch nicht glatt, sondern zerklüftet und voller Furchen – so als hätte das Werk bei einem Umzug ordentlich was abgekriegt oder als wäre eine Katze daran richtig ausgerastet.

Jetzt könnte man denken: „Hä, eine Skulptur ohne Arme und Kopf – die ist doch nicht fertig.“ Und genau das haben damals um 1900 auch viele gedacht. Diese Skulptur war ein richtiger Regelbruch. Rodin hat hinterfragt: Ab wann ist eine Skulptur eigentlich fertig? Wer bestimmt das? Und er war der Meinung: Auch eine unvollendete Skulptur kann fertig sein. Rodin hat sogar genau das zu seinem Markenzeichen gemacht.

Zu Rodins Zeit war es normal, dass Skulpturen eine glatte Oberfläche hatten und die dargestellten Körper idealisiert waren – im Prinzip Barbies aus Marmor. Aber Rodin ging es nicht um so was wie Perfektion. Er wollte möglichst ausdrucksstarke Kunst machen. Und das hat er geschafft: Der „Schreitende Mann“ in der Kunsthalle Karlsruhe strahlt eine enorme Kraft und Dynamik aus. Und das ohne jegliche Mimik und Gestik – ist ja beides schwer, wenn man keinen Kopf und keine Arme hat.

Typisch für Rodin ist auch, dass diese Skulptur sehr rough wirkt. Überall sind noch Arbeitsspuren sichtbar, die Oberfläche ist eben nicht glattgeschliffen. Man kann plötzlich nachvollziehen, wie der Künstler gearbeitet hat. Er verwischt seine Spuren nicht, sondern betont vielmehr seine Handschrift. Vielleicht kann man das am besten mit einer Skizze vergleichen. Eine erste Studie, grob gezeichnet – die ist ja teilweise auch ausdrucksstärker als das fertige, sauber gemalte Bild. Bisschen so wie bei Partys: Spontane Abende mit Tetrapak-Wein sind manchmal viel besser als perfekt geplante Partys. Auch wenn es sich beim Kater dann genau umgekehrt verhält. Rodin zeigt uns also seine Skulptur und gleichzeitig auch wie sie gemacht ist. Er liefert das Making-of gleich mit – so wie früher jede gute DVD.

Mit dem Unfertigen zu spielen ist nicht ganz neu. Schon in der Renaissance, also im 15./16. Jahrhundert hat man die kaputten und unvollständigen Skulpturen der Antike gefeiert: Zum Beispiel den Torso von Belvedere. Das ist… ja, halt ein Torso. Außer Bein-Ansätzen ist da echt nicht mehr viel dran. Aber Künstler wie Michelangelo haben sich davon inspirieren lassen. Michelangelo hat nämlich selbst Skulpturen geschaffen, die unfertig wirken und an denen der Steinblock noch sichtbar ist. Non-finito nennt man so was – also unvollendet. Eigentlich ist non-finito wirklich die perfekte Ausrede in der Schule, wenn man die Hausaufaben nicht fertig hat.

Und auch Rodin nutzt dieses Prinzip des Non-finito. Aber nicht nur das: Der Schreitende Mann aus der Kunsthalle Kalrsruhe ist noch aus einem anderen Grund ungewöhnlich. Auf den ersten Blick fällt es vielleicht gar nicht auf. Aber wenn man genau hinguckt, merkt man: Der Oberkörper der Skulptur wirkt merkwürdig starr und aufrecht, obwohl sich die Beine bewegen. Das sieht komisch aus. Normalerweise neigt man sich beim Gehen ja ein bisschen nach vorne.

Und tatsächlich hat Rodin hier zwei verschiedene Skulpturen zusammengesetzt. So wie man bei Lego ja auch einfach einen Oberkörper mit einem Paar Beine zusammensteckt – nur, dass es hier eben nicht ganz genau zusammenpasst. Den Oberkörper hat Rodin von einem früheren Torso übernommen. Und die Beine stammen von der Skulptur Johannes der Täufer, den er 1878/80 geschaffen hat. Das ist ein nackter Mann, der gerade auf seine Zuhörer*innen zugeht. Warum er beim Predigen jetzt nackt ist, verstehe ich nicht ganz – aber na gut. Der Kopf von Johannes dem Täufer, also eine Studie dazu, befindet sich übrigens auch in der Kunsthalle Karlsruhe. Rodin übernimmt von dieser Skulptur aber nur die Beine und macht den Schritt bei seinem Schreitenden Mann noch etwas weiter.

Rodin recycelt hier also zwei ältere Skulpturenteile, also den früheren Torso und die Beine von Johannes dem Täufer, fügt sie zusammen und macht daraus etwas Neues. Ähnlich wie der aktuelle Möbeltrend: Olle Kissen plus Gabelstaplerpaletten – Zack – Hipstersofa. Die Naht zwischen den beiden Skulpturenteilen kaschiert Rodin nicht. Wieder legt er seinen Arbeitsprozess offen.

Kein Wort von Studie mehr, er begreift die Skulptur jetzt als eigenständig und fertig. Ich finde es spannend, dass Rodin nun einen sehr offenen Titel wählt. „Schreitender Mann“: Hier geht es nicht mehr um irgendeine religiöse Figur wie Johannes den Täufer oder so. Hier geht es nur um die Bewegung, um das Schreiten. Darauf liegt der Fokus und vielleicht hat Rodin deshalb alles andere – also Kopf und Arme – weggelassen.

Dass in dieser reduzierten Skulptur sehr viel Kraft steckt, das hat auch Rainer Maria Rilke erkannt. Ihr erinnert euch – der berühmte Schriftsteller und kurzzeitige Sekretär von Rodin. Rilke hat über den Schreitenden Mann sogar etwas geschrieben und zwar (ich zitiere): „Er geht. Er geht, als wären alle Weiten der Welt in ihm und als teilte er sie aus mit seinem Gehen. Er geht.“ Wow. Ich könnte kein besseres Schlusswort finden als das. Und auch bei uns geht es weiter – mit der nächsten Folge von Kunstsnack in zwei Wochen. Danke für’s Zuhören. Ciao.

Das war der Kunstsnack – Kurze Facts leicht bekömmlich. Mit Jakob Schwerdtfeger. Eine Produktion der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Abonniert unseren Podcast und folgt uns bei Instagram. Habt Ihr Themenwünsche, schreibt uns via Directmessage oder per Mail an digital@kunsthalle-karlsruhe.de.

Newsletter

Auch während der sanierungsbedingten Schließung informieren wir Sie hier über die Geschehnisse hinter den Kulissen der Kunsthalle.