Hidden Champion: Die Okeanide von Henri Laurens

Kennt ihr das? Ihr hört großartige Musik und denkt euch nur: „Wie kann es sein, dass diese Band nicht mega bekannt ist? Die kann doch mit den ganz Großen mithalten. Was ist da los?“ So ein Hidden Champion der Kunst ist der Bildhauer Henri Laurens. Er ist in den vielen wichtigen Museumssammlungen vertreten und hat richtig abgeliefert. Und trotzdem ist er den meisten Menschen kein Begriff. Höchste Zeit also ihn sich mal etwas näher anzuschauen und das geht natürlich nirgendwo besser als… genau, in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Heute geht’s um Henri Laurens‘ Okeanide aus den Jahren 1932/33. Und was das Ganze mit Pablo Picasso, Parfümwerbung und der Tochter eines Meeresgottes zu tun hat – das erfahrt ihr jetzt. Viel Spaß!

Der Kunstsnack – Kurze Facts leicht bekömmlich. Von der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe mit dem Comedian und Kunsthistoriker Jakob Schwerdtfeger.

Keine Sorge, es geht gleich los, aber hier noch ein Hinweis: Schaut gerne in die Shownotes dieses Podcasts. Da ist ein Link und dort könnt ihr euch das Werk anschauen, um das es jetzt geht. Aber genug bla bla, jetzt beschreibe ich euch das alles in Ruhe.

Was gibt‘s hier zu sehen? Bildliche Beschreibung

Wir haben es bei der Okeanide von Henri Laurens mit einer Plastik zu tun, also mit einer dreidimensionalen Arbeit. Ganz kurz: Was ist der Unterschied zwischen Plastik und Skulptur? Bei einer Plastik wird Material Schritt für Schritt hinzufügt – zum Beispiel mit Ton. Bei einer Skulptur wird Material abgetragen – zum Beispiel Stein oder Holz wird abgeschlagen. Das ist der Unterschied. Plastik sagt man übrigens auch, wenn ein Werk mit Ton, Wachs oder sonst einem Material geformt und dann in ein Metall gegossen wurde, zum Beispiel Bronze. Das ist nämlich hier der Fall.

Die Bronzeplastik aus Karlsruhe von Henri Laurens ist über zwei Meter hoch und stellt eine nackte Frau mit langen, wehenden Haaren dar. So weit, so klassisch. Aber diese Frau ist wirklich nicht standardmäßig gestaltet. Fangen wir mit ihrer Körperhaltung an. Die Dargestellte kniet, aber nicht normal, sondern eher in einer Art Entdeckerinnen-Pose, wie Captain Morgan auf der Rum-Flasche, der seinen Fuß auf einem Fass abstellt – nur halt alles kniend. Das eine Bein der Dargestellten ist also aufgestellt auf eine Muschel, das andere Bein ist am Boden. Die Schenkel sind dadurch weit gespreizt. Den Kopf hat die weibliche Figur in den Nacken gelegt, sie schaut nach oben. Den linken Arm hat sie über den Kopf erhoben. Diese Pose wiederum wirkt wie aus einer Parfüm-Werbung. Da werden ja auch immer sehr unnatürliche, vermeintlich genussvolle, sexy Posen eingenommen, die überhaupt keinen Sinn ergeben. Warum sollte man den Kopf in den Nacken legen und den Arm dann so über den Kopf halten, dass er einem die Sicht versperrt?

Mit dem anderen Arm greift die Bronzefigur hinter sich in eine Welle. Hier werden also Gliedmaßen in alle möglichen Richtungen gestreckt. Das eine Bein ist aufgestellt, das andere am Boden, der eine Arm über dem Kopf, der andere hinter dem Körper – sehr raumgreifend das Ganze. Spannend ist vor allem das Formenspiel dieser Plastik. Henri Laurens schafft hier keinen anatomisch korrekten Körper. Manche Körperteile sind sehr eckig und kantig, auch die Brüste sind ungewöhnlich spitz, das sind quasi zwei klassische Kegel aus dem Mathe-Unterricht. Mit diesen Brüsten könnte man locker jemanden aufspießen. Andere Körperteile wirken wie zusammengesteckt. Die Waden und Oberarme sind unverhältnismäßig voluminös im Vergleich zum Rest des schmalen Körpers. Der erhobene Arm ist auch viel kürzer als der andere. Es wird klar: Dem Bildhauer Henri Laurens geht es nicht um eine exakte Wiedergabe der Wirklichkeit. Ihm geht es um Dynamik, um Volumen, um ein interessantes Formenspiel. Dadurch kommt diese interessante Wirkung seiner Plastik zustande: Das Werk wirkt schwer und mächtig, aber zugleich auch leicht und spielerisch.

Henri Laurens hat mal zu seinem Arbeitsprozess gesagt (ich zitiere): „Wenn ich eine Skulptur beginne, habe ich nur eine vage Vorstellung von dem, was ich machen will. Ich habe zum Beispiel die Vorstellung einer Frau oder von irgendetwas in Beziehung zum Meer. Bevor meine Skulptur zur Darstellung von irgendetwas wird, ist sie ein plastisches Faktum, genauer gesagt, eine Folge von plastischen Ereignissen, von Hervorbringungen meiner Imagination, von Antworten auf die Erfordernisse der Konstruktion. Das ist, im Ganzen gesehen, alles, was meine Arbeit ausmacht. Den Titel gebe ich am Schluß.“ (Zitat Ende) So, und damit wären wir beim Titel: Okeanide. Was ist das überhaupt? Okeanos ist in der griechischen Mythologie der Gott des Meeres. Die Okeaniden sind seine Töchter. Das erklärt natürlich die Welle und die Muschel der Plastik. Ich meine, Töchter von einem Meeresgott – natürlich sind da Meeresanspielungen bei Henri Laurens dabei. Aber anhand des Zitats habt ihr schon gemerkt: Henri Laurens bebildert hier keinen Mythos. Den Titel vergibt er erst am Schluss.

Der Epochen-Check

Die Okeanide gilt als erste Plastik, mit der sich Henri Laurens vom Kubismus verabschiedete. Trotzdem ist das Werk natürlich von dieser Kunstströmung beeinflusst, denn Henri Laurens galt lange als „kubistischer Bildhauer“. Was ist also der Kubismus? Wenn man das Wort „Kubismus“ hört, stellt man sich ja zuerst eine Kunst vor, die komplett aus Kuben zusammengesetzt ist – gewissermaßen das Lego der Kunst. Ganz so ist es allerdings nicht. Der Kubismus entstand Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich, Pablo Picasso gilt als Vorreiter dieser Kunstrichtung.

Beim Kubismus ging es unter anderem darum mit der klassischen Perspektive zu brechen. Objekte wurden aus zwei oder drei oder vier Perspektiven gleichzeitig gezeigt – also von vorne, unten, oben, alles zugleich. Das ist ja eigentlich gar nicht möglich, aber in der Kunst eben schon. Außerdem wurden Motive im Kubismus in geometrische Formen zerlegt – also in Kegel, Kugeln, Kuben und so weiter. Eine fast schon mathematische Herangehensweise.

Henri Laurens wird von dieser Denkweise viel beeinflusst. Er wollte in seinen Werken Bewegung einfangen und bediente sich dafür gerne geometrischer Formen. Als Bildhauer ging Henri Laurens durchaus analytisch vor und beschäftige sich wie andere Kubist*innen viel mit dem Thema Raum. So sagte er zum Beispiel: „Die Hohlräume müssen in einer Plastik ebenso viel Bedeutung haben wie die Volumen. Die Plastik ist vor allem Besitzergreifung des Raumes, eines durch Formen begrenzten Raumes. Viele machen Plastiken ohne Gefühl für den Raum; deshalb haben ihre Figuren überhaupt keinen Charakter.“ Hui, das ist tatsächlich auch ziemliches Kolleg*innenbashing. Naja.

In der Okeanide aus Karlsruhe verweist das Kantige an der Plastik noch auf den Kubismus. Und auch dass die Körperteile stellenweise wie zusammengesetzt wirken. Aber ab den 1930er Jahren werden Laurens‘ Arbeiten zunehmend runder und dynamischer. Und so hat seine Okeanide von 1932/33 zwar kubistische Anleihen, aber vor allem hat sie einen eigenen Stil, der über den Kubismus hinausweist.
Henri Laurens kannte das Who is Who des Kubismus, hat sich mit ihnen intensiv ausgetauscht und trotzdem sein eigenes Ding gemacht. So meinte er mal: „Ich habe alleine gearbeitet, auf meine Art und Weise.“

Wie wurde das Werk beeinflusst? Interessante Inspirationen

Henri Laurens war ein französischer Bildhauer, der in Paris lebte. Zu der Entstehungszeit der Okeanide allerdings verbringt Henri Laurens ein halbes Jahr in L’Etang-la-Ville. Täglich geht er dort in den Wald und lässt sich dort für seine Werke anregen. Er verknotet schließlich die Körperteile seiner Plastiken wie Äste und tatsächlich sehen etwa die Arme der Okeanide ein bisschen wie dicke, abgeknickte Äste aus. Außerdem kriegen Henri Laurens‘ Werke eine raue Oberfläche wie Baumrinden. Und auch das fällt an der Okeanide auf, wenn man genau hinschaut. Also: Ein wichtiger Einfluss war der Wald!

Ein anderer entscheidender Einfluss war außerdem der Künstler Henri Matisse. Zwei Werke seiner Werke waren prägend für Laurens. Erstens: Serpentine von Matisse. Bei dieser stehenden Frau sind Arme und Beine viel größer und dominanter als der Rumpf – wie bei der Okeanide. Und die „Venus in der Muschel“ von Matisse war wichtig für Laurens. Matisses Werk zeichnet sich durch folgendes aus: erhobene Arme über dem Kopf, eine kniend, sitzende Körperhaltung, das Ganze in mit Muschel. Das erinnert schon ein bisschen an die Beschreibung der Okeanide. Henri Matisse, Henri Laurens, Henri und Henri – passt doch super.

Wer hätte das gedacht? Faszinierender Funfact

Die Okeanide verweist mit der Welle und der Muschel klar auf das Meer. Allerdings sieht der Künstler erst 1937 das erste Mal überhaupt das Meer. Also, 4/5 Jahre nach Entstehung der Plastik aus Karlsruhe. Ok, aber ganz ehrlich: Für die kleine Welle bei der Okeanide muss man das Meer auch echt nicht mit eigenen Augen gesehen haben.

Ihr allerdings solltet dieses Werk unbedingt mal mit eigenen Augen sehen und auch drum herumlaufen, denn das ist ja das Großartige an Plastiken – die verschiedenen Ansichten. Also, auf zur Kunsthalle Karlsruhe. Und wir hören uns in zwei Wochen wieder mit einer neuen Folge von Kunstsnack. Bis dahin, Ciao.

Das war der Kunstsnack – Kurze Facts leicht bekömmlich. Mit Jakob Schwerdtfeger. Eine Produktion der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Abonniert unseren Podcast und folgt uns bei Instagram. Habt Ihr Themenwünsche, schreibt uns via Directmessage oder per Mail an digital@kunsthalle-karlsruhe.de.

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