Ein emotionaler Kaktus
Julio González: Kaktusmensch II
Julio González – dieser Künstler ist maximal underrated. Eigentlich müsste der euch allen was sagen, bei all den krassen Impulsen, die er in der Kunst gesetzt hat. Er hat krasse Skulpturen gemacht, allerdings aus ollen Metallresten vom Schrottplatz. Das ist als hätte er das Material für seine großartigen Werke bei den Ludolfs besorgt. Achja und außerdem hat González mit Picasso zusammengearbeitet. Klar, wer hat das nicht? Julio González ist ein echter Ausnahmekünstler: Er erlernte wichtige künstlerische Techniken in einer Autofabrik, er machte Eisen zu einem angesehen Kunstmaterial und schuf einen emotionalen Kaktus. Genau um dieses plastische Kunstwerk geht’s heute. Der Kaktusmensch II aus der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Viel Spaß!
Der Kunstsnack – kurze Facts leicht bekömmlich. Von der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Mit dem Comedian und Kunsthistoriker Jakob Schwerdtfeger.
Wir haben es bei Julio González mit einer dreidimensionalen Arbeit zu tun. Ich werde dazu in diesem Podcast „Plastik“ sagen. Jetzt stellt sich natürlich direkt die Frage: „Hä? Wieso nicht Skulptur? Und was zu Hölle ist eine Plastik?“ Skulptur und Plastik sind nicht das gleiche, auch wenn wir im Alltag da keinen Unterschied machen. Bei einer Skulptur wird Material abgetragen, man schlägt also Holz oder Marmor ab. Bei einer Plastik hingegen wird Material angebracht, zum Beispiel werden Tonschichten nach und nach hinzugefügt und modelliert, bis eine Figur fertig ist. Und auch Eisenstücke, die man zusammenschweißt, sind eine Plastik. Kleiner Pro-Tipp: Wenn ihr bei dreidimensionaler Kunst unsicher seid, könnt ihr auch einfach „Objekt“ sagen – damit liegt ihr selten falsch.
So, jetzt aber zur Plastik von Julio González aus der Kunsthalle Karlsruhe. Dieses Werk ist der absolute Endgegner für eine Werkbeschreibung, deshalb schaut es bitte, bitte kurz selbst an. In den Shownotes ist ein Link zur Abbildung. Der Titel des Werks lautet Kaktusmensch II. Und tatsächlich handelt es sich genau darum: Eine abstrakte Mischung aus Mensch und Kaktus. Mich erinnert die Darstellung an eine Figur, die einen Arm in die Luft streckt, gleichzeitig besteht die Plastik aus vielen geometrischen Flächen und dazu gibt es noch eckige Einbuchtungen, die wie Fächer aussehen. Außerdem scheinen die Beine aus Kaktusteilen zu bestehen, denn überall dort sind Stacheln. Diese bestehen aus eingearbeiteten Nägeln. Die gesamte Arbeit ist etwa 85 cm hoch und besteht komplett aus Eisen.
Eisen als Material klingt jetzt nicht so weltbewegend, aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als der Kaktusmensch II entstand, war Eisen in der Kunst im Prinzip nicht existent. Es war kein angesehener Werkstoff, also wirklich so gar nicht. Dreidimensionale Werke wurden aus Bronze oder Marmor oder dergleichen gemacht. Eisen, das war, als würde ich Zeichnungen machen, aber auf Klopapier. Julio González hat dieses Metall salonfähig gemacht, er ist der Erfinder der Eisenplastik. Daher wurde er auch als „der Künstler mit dem Schweißgerät“ bekannt. Diese Technik hatte er bei dem Autokonzern Renault gelernt, die während des Ersten Weltkriegs Militärgerät produzierten.
Die Plastik aus der Kunsthalle Karlsruhe heißt Kaktusmensch II, es gibt also auch einen Kaktusmensch I – das war’s, es ist ein zweiteiliges Werk. Es gibt nicht wie bei dem Film „The Fast and the Furios“ gefühlt 98.000 Teile. Die beiden Kaktusfiguren bilden ein Paar. Der männliche Part befindet sich in Valencia im Museum. Er ist insgesamt etwas kantiger und robuster als die Kaktusfrau in Karlsruhe. Der weibliche Teil, um den in dieser Folge geht, ist feiner, zierlicher und hat rundere, geschwungene Formen.
Mich erinnert die Plastik aus der Kunsthalle Karlsruhe ein bisschen an einen Cartoon. Vielleicht kennt ihr den: Coyote und Roadrunner, wo der Coyote ständig den viel schnelleren Roadrunner jagt. Ein Looney Tunes Klassiker. In einer Folge verkleidet sich der Coyote als Kaktus, um den Roadrunner auf einer Straße zu stoppen. Und in diesem Kaktuskostüm sieht er ein bisschen aus wie die Plastik von Julio González. So ein weirdes Mischwesen, Kaktus mit Armen und Beinen. Am Ende umarmt sich der Coyote übrigens aus Versehen selbst und ist voller Stacheln. Wirklich lustige Szene. Der Hintergrund von „Kaktusmensch II“ ist hingegen gar nicht lustig.
Hier ist das Entstehungsjahr des Kunstwerks wichtig: 1940 und damit kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Julia González war Spanier. Der Spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 hatte ihn schon sehr mitgenommen, so auch die Zerstörung der Stadt Guernica durch deutsche und italienische Luftangriffe. Beide Nationen, also Italien und Deutschland, kämpften damals an der Seite Francos. Picasso malte als Reaktion auf dieses Blutvergießen sein wohl wichtigstes Bild mit dem Titel „Guernica“ – ein wirklich bewegendes Kriegsgemälde. Auch González schuf für die Pariser Weltausstellung zusammen mit Picasso und dem berühmten Künstler Joan Miro Werke, die erschütternd waren. Zusammen riefen die Künstler gegen den faschistischen Terror von Hitler und Franco auf. Sie unterstützten das spanische Volk und den Freiheitskampf.
Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte für González auch direkte künstlerische Konsequenzen, denn Eisen wurde knapp, kriegsbedingt. Kaktusmensch II sollte seine letzte Eisenplastik werden. Den Künstler störte, dass Eisen nur noch mit Waffen assoziiert wurde. Er sagte dazu (ich zitiere): „Vor Jahrhunderten hat das Zeitalter des Eisens damit begonnen, (leider) Waffen zu erzeugen, darunter sogar einige sehr schöne. Heute erlaubt es uns, Brücken, Industriegebäude, Eisenbahnnetze zu bauen … Es ist höchste Zeit, dass dieses Material aufhört mörderisch zu sein oder nur einer mechanisierten Wissenschaft zu dienen. Das Tor ist heute weit geöffnet, damit dieses Material in das Reich der Kunst eindringe und von friedlichen Künstlerhänden geschmiedet und geformt werde.“ (Zitat Ende)
Da Eisen aber Mangelware war, arbeitete González mit Gips, was ihn aber unzufrieden machte. Gips und Eisen – ich kann schon gut verstehen, dass das nicht vergleichbar ist. Gips ist irgendwie kein sonderlich spaßiges Material, außer man malt einen Gipsarm voll. Meine Meinung.
Vor dem ganzen historischen Hintergrund ergibt sich eine spannende Lesweise von Kaktusmensch II: Der Künstler zeigt hier eine Verwandlung vom Menschen in eine Pflanze. Vielleicht ist es eine Anspielung auf einen antiken Mythos. Darin flieht die Nymphe Daphne vor dem Gott Apoll. Sie entkommt, weil sie sich in einen Lorbeerbusch verwandelt. Daphne tarnt sich als Pflanze getarnt und auch die Kaktusfigur von González hat pflanzenartige Züge. Auch wenn die Plastik nichts mit Daphne zu tun hat – die Stacheln der Plastik sind eventuell eine Art Abwehrmechanismus gegen den Krieg, ein defensives Schutzschild. Oder die Stacheln dienen der Tarnung, als wäre es Kaktus-Camouflage. Hier gibt es viele Interpretationsmöglichkeiten.
Die Zeit während des Zweiten Weltkriegs verbrachte Julio González mit Entwürfen für Skulpturen, die er nach dem Krieg realisieren wollte. Dazu kam es aber nicht. 1942 stirbt der Künstler in Paris an einem Herzanfall. Aber drehen wir noch mal kurz die Zeit zurück. Wir steigen in den Delorean aus „Zurück in die Zukunft“ und reisen fix in die Vergangenheit, zu den künstlerischen Anfängen von Julio Gonzaléz. Wie kam es zu der Verwendung von Eisen? Und was hat das alles mit Picasso zu tun?
Julio González kommt 1876 in Barcelona zur Welt. Sein Vater ist Goldschmied, er erlernt dieses Handwerk und wird ziemlich gut darin. Für seine Goldarbeiten bekommt er in Chicago sogar eine Goldmedaille – innovativ: Gold für Gold. Naja, parallel besucht González in Barcelona Abendkurse an der Kunstakademie. Er bewegt sich in Kunstkreisen und lernt dabei jemanden Besondere kennen (ihr ahnt es): Pablo Picasso. Der war ja ebenfalls Spanier. Nach der Übersiedlung nach Paris trifft González ihn hier erneut, die beiden werden gute Freunde. Eigentlich wollte González Maler werden – für ihn war das Schmieden von Eisen ein nützliches Handwerk, aber nicht mehr. In Paris beginnt González aber mit der Bildhauerei und erstellt erste Werke aus Metall, auch aus Eisen. Die Malerei gibt er schließlich komplett auf.
1923 ist dann ein entscheidendes Jahr, denn hier arbeitet González das erste Mal mit Picasso zusammen. Etwas später bringt González Picasso bei, wie man Metall verarbeitet. Picasso schafft daraufhin eigene plastische Werke. In seinem Schaffen nimmt González also eine zentrale Rolle ein, nur leider weiß das kaum jemand. Aber auch umgekehrt wird Picasso zu einem zentralen Einfluss: Er spornt González dazu an, abstrakter zu arbeiten, was dann auch passiert. Julio González begreift seine Skulpturen dann eher wie eine Zeichnung im Raum. Er beginnt frei mit den Formen umzugehen. Linien, Flächen setzt er zusammen, es entstehen quasi abstrakte 3D-Collagen, so wie beim Kaktusmensch II. Bei der all der Abstraktion bleibt aber auch immer das Gegenständliche bei González erhalten – seine Plastiken sind irgendwas dazwischen, genau wie der Kaktusmensch irgendwo zwischen Pflanze und Mensch und abstraktem Werk.
Picasso ermutigt González auch mit neuen Materialien zu experimentieren. González war eigentlich gar nicht so der Eisen-Fan, aber das waren nun mal die Materialien, die er easy auf dem Schrottplatz bekam, denn er hatte immer wieder Geldnöte. Tja, und wie wir wissen: Not macht erfinderisch und in diesem Fall geht aus all diesen ganzen Umständen sogar ganz große, stachelige Kunst hervor.
Hui, was alles in so einer Plastik stecken kann. Crazy. Für diese Vielschichtigkeit liebe ich Kunst. Und in zwei Wochen geht es genau damit weiter. Dann stelle ich euch das nächste Werk aus der Sammlung der Kunsthalle Karlsruhe vor. Bleibt mir also nichts mehr zu sagen außer: Abonniert den Podcast und machts gut. Ciao.
Das war der Kunstsnack – Kurze Facts leicht bekömmlich. Mit Jakob Schwerdtfeger. Eine Produktion der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Abonniert unseren Podcast und folgt uns bei Instagram. Habt Ihr Themenwünsche, schreibt uns via Directmessage oder per Mail an digital@kunsthalle-karlsruhe.de.