Von unten an die Spitze – Mädchen, sich ankleidend von Suzanne Valadon

Diese Künstlerin ist so krass: Nach ihr ist einfach ein Einschlagskrater auf der Venus benannt. Zurecht, denn ihre Werke haben eine ähnliche Wucht! Die Rede ist von Suzanne Valadon. Kennt ihr nicht? Das müssen wir ändern: Sie ist eine absolute Selfmade Woman und hat es von ganz unten zu einem festen Platz in der Kunstgeschichte geschafft. Aber dieser Weg war steinig und oft nicht fair. Suzanne Valadon ist eine Underdog-Geschichte für sich. Und eines ihrer Werke schauen wir uns heute an. Viel Spaß!

Der Kunstsnack – Kurze Facts leicht bekömmlich. Von der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe mit dem Comedian und Kunsthistoriker Jakob Schwerdtfeger.

Die Kunstgeschichte ist voller nackter Frauen, im Museum gibt’s mehr Brüste zu sehen als im Privatfernsehen nach 22 Uhr. Meist sind die Darstellungen auf den Gemälden ziemlich sexualisiert, es ist der männliche Lustmolch-Blick von dem die Kunstgeschichte maßgeblich geprägt ist. Aber in der Staatliche Kunsthalle Karlsruhe gibt es allerdings auch bekleidete weibliche Figuren. Eine davon ist auf der Zeichnung von Suzanne Valadon. Was sehen wir? Ein Mädchen steht mit dem Rücken zu uns und nestelt an dem Verschluss von ihrem Kleid herum. „Mädchen, sich ankleidend“: Das ist der kreative Titel dieser Zeichnung, aber er beschreibt immerhin präzise, was hier passiert. Circa 1925 ist das Ganze entstanden, also vor etwa hundert Jahren. Schaut euch das Werk gerne mal in Ruhe an – in den Shownotes findet ihr einen Link zur Abbildung.

Typisch für Valadon sind die dunklen Umrisslinien und die kräftigen Farben. Sie verwendete für diese Zeichnung Pastellkreiden. Die sind sehr empfindlich, also dieses Werk besser nicht anpusten! Aber vor allem typisch für Valadon ist die Natürlichkeit der Pose. Das Mädchen wirkt, als fühle sie sich unbeobachtet. Ihre Körperhaltung ist ungezwungen und locker. Einfach… ja, ganz normal. Auf mich hat das Werk eine sehr beruhigende Wirkung. Die Dargestellte ist ganz in ihre Tätigkeit vertieft, irgendwie hat das eine sehr stille Atmosphäre – die Zeichnung anzugucken ist für mich wie eine Art Mini-Meditation.

Die Zeichnung wirkt schnell hingeworfen, doch sie ist wahnsinnig präzise, jeder Strich sitzt, jeder Strich hat Ausdruck. Die Künstlerin weiß genau, was sie tut. Nur wo hat Valadon so gut zeichnen gelernt? Sie hat nämlich keinerlei künstlerische Ausbildung genossen, stattdessen hat sie sich alles selbst beigebracht. Eine atemberaubende Autodidaktin! Um euch Valadons Werdegang als Künstlerin zu erläutern, muss ich ein bisschen ausholen. Aber glaubt mir, das wird sicher kein langweiliger Exkurs. Die Biografie von Valadon ist echt filmreif.

1865 wird sie in Frankreich geboren und bald zieht sie nach Paris, genauer gesagt Montmartre. Damals war das Viertel nicht im Ansatz so hip und schön wie heute. Im 19. Jahrhundert ist Montmartre ein Armenviertel. Um die Jahrhundertwende ziehen dann viele Künstler*innen dorthin, Montmartre wird zu einem Zentrum der Pariser Bohème.

Valadon wächst ohne Vater auf, die Mutter arbeitet viel, bis zu 16 Stunden täglich. Daher treibt sie sich ständig auf der Straße herum, die Klosterschule verlässt sie schon mit 11 Jahren. Sie schlägt sich danach erst mal mit Aushilfsjobs durch und landet schließlich beim Zirkus. Valadon will Artistin werden, doch eines Tages stürzt sie vom Trapez und damit ist dieser Traum vorbei. Deshalb beginnt sie mit 15 Jahren als Künstlermodell zu arbeiten – es ist ihre Eintrittskarte in die Kunstwelt. Wobei: es gibt Quellen, die besagen, dass Valadon auch schon vorher gemalt hat, also bevor sie Modell wurde. Sie malte da wohl Bilder von Menschen, aber ziemlich beschönigt – also im Prinzip der Vorläufer von Instagram-Filtern.

Vermutlich hatte Valadon als Modell mit vielen ihrer Auftraggeber sexuelle Beziehungen, die aus heutiger Sicht teilweise sehr kritisch hinterfragt werden müssen. Auch wenn es nicht eindeutig bewiesen ist, wird angenommen, dass sie zum Beispiel zur Geliebten des Malers Puvis de Chauvannes wurde – er war damals 56 Jahre alt und sie erst 15. Ey, das ist fast vier Mal so alt. Was zur Hölle? Das Verhältnis Maler und Modell ist eh ein überkommener Mythos. Da wird ganz viel verharmlost.
Es heißt dann gerne „die Muse, Maler brauchen eine Muse, die Muse“ – bla, bla, bla. Dabei wird häufig übersehen, dass etliche der Modelle auch selbst Künstlerinnen waren. Nicht nur Valadon, zum Beispiel auch Camille Claudel: eine hervorragende Bildhauerin, sie wird aber weiterhin oft nur als Modell von dem Künstler Rodin gesehen. Frauen dienten als Motive in der Kunst, aber eigenständige Schöpferinnen – nee, das gestand man ihnen nicht zu. Das merkt man auch daran, dass Frauen über Jahrhunderte von den Akademien ausgeschlossen waren. In Deutschland dürfen Frauen erst seit 1919 Kunst studieren, das sind gerade mal gut 100 Jahre.

Frauen mussten sich deshalb teuren Privatunterricht nehmen ooooder sich alles selbst beibringen – und genau das machte Valadon. Sie perfektionierte das Prinzip „Watch and Learn“. Während sie Modell stand, guckte sie sich alles genau an: Wie gehen die Maler ihre Bilder an? Was sind ihre Tricks und Kniffe? Wie erschaffen sie große Kunst? Sie prägte sich alles ein und lernte auf diesem Weg.

Der Künstler Edgar Degas wird für Valadon zu einer Art Meister. Über ihn haben wir übrigens auch schon eine Kunstsnack-Folge gemacht. Hört die euch gerne an, ich finde, die ist sehr schön geworden. Edgar Degas bringt ihr künstlerisch einiges bei und ist gewissermaßen ihr PR-Berater: Degas ermutigt Valadon nämlich ihre Kunst auszustellen und öffentlich zu zeigen. Außerdem kauft Degas viele ihrer Werke und pusht ihre Kunst.

Valadons künstlerischer Fokus liegt auf weiblichen Akten – beim Baden, Abtrocknen, Lesen. Das nackte Good Life eben. Aber sie macht daraus keine erotischen Darstellungen wie viele ihrer Kollegen, bei ihr ist es eher wie am FKK-Strand – da ist die Nacktheit ja auch nicht sexuell aufgeladen, sie ist vielmehr ganz selbstverständlich. Valadon malt keine passiven Püppchen in Porno-Posen. Ihre Frauendarstellungen sind aktiv und selbstbewusst, die Frauen werden unvollkommen und realitätsnah dargestellt. Und das war damals echt unkonventionell.

So, noch mal zurück zu Valadons bewegter Biografie: Mit 18 wird sie bereits Mutter – ihr Sohn Maurice Utrillo war jedoch ein Problemkind. Schon als Jugendlicher hat er mit Alkoholproblemen zu kämpfen. Nach einer Entwöhnungskur wird ihm das Malen empfohlen. Darin wird Utrillo extrem erfolgreich – so erfolgreich, dass man Suzanne Valadon lange nur kennt als „Mutter von Utrillo“. Das ist bisschen wie Maria, die kennt man ja auch hauptsächlich als „Mutter von Jesus“. Es ist echt erstaunlich, wie sehr Valadon darauf reduziert wird – in ihrem Wikipedia-Eintrag zum Beispiel lautet schon der zweite Satz: „Sie ist die Mutter des Malers Maurice Utrillo.“ Kann man sich schwer vorstellen, dass bei Lucas Cranach im zweiten Satz steht: „War der Vater von dem Maler Cranach dem Jüngeren.“

Naja, wenn ihr Bock auf Gossip habt, kommt ihr jetzt auf eure Kosten: Valadon heiratet dann einen reichen Bankier, der sie aber irgendwann langweilt. Also verlässt sie ihren Mann und beginnt eine Beziehung mit André Utter. Das war… ein Freund ihres Sohnes. Das ist schon echt strange. Also ich fände es extrem befremdlich, wenn meine Mutter mit einem Kumpel von mir zusammenkommt. Uah, gar keinen Bock mir das vorzustellen. Vor allem haben die drei, also Utter, Utrillo und Valadon dann auch noch zusammengelebt. Utter war damals 21 Jahre jünger als Valadon. Das sind noch mal 5 Jahre mehr Altersunterschied als bei Heidi Klum und Tom Kaulitz. Ja, das hab ich extra auf der Seite von „Bravo“ recherchiert.
Valadon malte ein Bild von sich und Andre Utter als Adam und Eva. Auf dem Gemälde greifen beide nach dem Apfel, der Sündenfall wird also gleich verteilt. Und interessant ist auch: Valadon ist nun die Künstlerin und der Mann das Modell. Sie hat also den Spieß umgedreht. Das steht insgesamt ganz gut für ihre komplette Karriere, denn die Künstlerin lebte ein unkonventionelles und selbstbestimmtes Leben. Sie wurde zu einer der schillerndsten Persönlichkeiten von Montmartre und der modernen Kunst. Wenn man sich die Zeichnung des Mädchens aus der Kunsthalle Karlsruhe anschaut, sieht man all das natürlich nicht. Aber schon hier im Kleinen wendet sich Valadon von der Norm ab und schafft eine ganz normale Darstellung einer weiblichen Figur und das war damals schon ein großer Schritt.

So, damit sind wir am Ende der heutigen Folge von Kunstsnack. Abonniert diesen Podcast gerne und empfehlt ihn weiter. Wir hören uns wie immer in zwei Wochen wieder mit dem nächsten Werk aus der Kunsthalle Karlsruhe. Bis dahin, macht’s gut, Ciao.

Das war der Kunstsnack – Kurze Facts leicht bekömmlich. Mit Jakob Schwerdtfeger. Eine Produktion der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Abonniert unseren Podcast und folgt uns bei Instagram. Habt Ihr Themenwünsche, schreibt uns via Directmessage oder per Mail an digital@kunsthalle-karlsruhe.de.

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