
Kinderreigen
Beschreibung
Das Gemälde zählt nicht nur wegen des lieblich anmutenden Motivs zu Hans Thomas populärsten Werken. Auch die Komposition, die Beziehungen der Figuren zueinander, ihre individuellen Physiognomien, die Stofflichkeit ihrer Kleider und ihre Einbettung in die Landschaft wirken ausgesprochen stimmig. Landschaftlich lässt die Szene den deutschen Südwesten assoziieren. Häufig verknüpfte Thoma Eindrücke aus seiner Bernauer Heimat mit solchen der Rheinebene bei Säckingen und der fernsichtigen Alpen zu einer plausiblen, jedoch erfundenen Geographie.
Auf einer Wiese halten sieben Mädchen und ein Junge einander an den Händen und tanzen im Kreis. Ihre geöffneten Münder verraten, dass sie ihr Ringelreihen singend begleiten. Thomas Gemälde zelebriert die Kindheit, was von der frühlingshaften Natur mit Gänseblümchen und dem zarten Grün der Pappeln am Fluss metaphorisch aufgegriffen wird. Doch ist dies Idyll nicht frei von Mahnung: Die schneebedeckten Höhenzüge im Hintergrund verweisen auf Härten, die im Leben noch folgen können. Und auch die Gesichter der Kinder sind nicht gelöst. Statt einem Lächeln findet man ernste oder versonnene Minen.
Das Werk entstand in München, wo Thoma mit Künstlern wie Arnold Böcklin, Wilhelm Leibl und Wilhelm Trübner in Kontakt stand. Zeitgleich griffen einige Kollegen Kindheitsthemen in der Genremalerei auf, oft mit einem Fokus auf Herausforderungen und Konflikten. Thoma hingegen betonte im Querformat des Kinderreigens Ordnung und Harmonie.
1895 wurde das Gemälde in Dresden ausgestellt. Kunsthistoriker Paul Schumann kritisierte, die Kinder wirkten nicht ganz bei der Sache. Dabei zeigt die sorgfältige Komposition das Gegenteil: Die Positionen von Händen und Füßen sind akribisch durchdacht. Die Beleuchtung, wie aus einem Scheinwerfer, entrückt die Szene ins Artifizielle und unterstreicht den fragenden Ausdruck des Mädchens im Vordergrund. Diese Ambivalenz irritierte Zeitgenossen, die fröhliche, unkritische Darstellungen einer beispielhaften kindlichen Frömmigkeit bevorzugten.
Thomas Werk bricht bewusst mit der Erwartung eines ungetrübten Kinderreigens. Seine ernste Auseinandersetzung mit der Kindheit sollte sich später in der Reformpädagogik wiederfinden, der er gedanklich nahestand. 1902 schenkte Thoma das Gemälde der Großherzoglichen Galerie in Karlsruhe, deren Direktor er war, anlässlich des 50-jährigen Thronjubiläums des Großherzogs von Baden.
Hans Thoma als Künstler
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Publikumsliebling
Kaum ein anderes Werk Hans Thomas ist in seiner badischen Heimat so bekannt, ja sogar populär, wie dieser große Kinderreigen. Als Reproduktion schmückt er unzählige private Wohnzimmer, aber auch Kindergärten und Klassenräume.
Arrangement mit vielen Qualitäten
Das Werk zählt zu Thomas besten Gemälden, was die Komposition, die Beziehungen der Figuren zueinander, ihre Physiognomien, die Stofflichkeit ihrer Kleider und ihre Einbettung in die Landschaft betrifft.
Die idyllische Szene ist auch landschaftlich mit dem Südwesten verbunden. Es ist zwar denkbar, dass der Maler hier eine Geografie erfunden hat. Hierbei verband er aber plausibel miteinander Eindrücke aus seiner Bernauer Heimat mit solchen der Rheinebene bei Säckingen und der fernsichtigen Alpen.
Idyll mit Einschränkungen
Auf einer Wiese halten sechs Mädchen und ein Junge einander an den Händen und tanzen im Kreis. Ihre geöffneten Münder verraten, dass sie ihr Ringelreihen singend begleiten.
Thomas Gemälde zelebriert die Kindheit, was von der frühlingshaften Natur mit Gänseblümchen und dem zarten Grün der Pappeln am Fluss hinterfangen wird. Doch ist die Idylle nicht frei von Mahnung: Die schneebedeckten Höhenzüge im Hintergrund verweisen auf Härten, die im Leben noch folgen können.
Und auch die Gesichter der Kinder sind nicht gelöst. Statt einem Lächeln findet man ernste oder versonnene Minen.
Role Models
Der Kinderreigen entstand 1872, als sich der Künstler mehrere Jahre in München aufhielt. Dort pflegte er Kontakt mit Künstlerkollegen wie Arnold Böcklin, Albert Lang, Wilhelm Leibl, Ernst Sattler, Carl Schuch und Wilhelm Trübner. Auch bei Schuch und Trübner finden sich 1872 Ansätze des Kindheits-Themas in der Genremalerei.
So malten beide Junge am Schrank (Der erste Versuch), bei dem die erste Begegnung mit Alkohol einen Jungen vor eine Belastungsprobe stellt. In ähnlicher Weise findet Trübners Gemälde Balgende Buben aus demselben Jahr eine Parallele in Thomas Raufenden Buben.
Die Kindheit eines Jungen wird hier als wildes Spiel dargestellt, als Ausloten von Grenzen im Akt ihrer Überschreitung, als das Messen von Kräfteverhältnissen und als Verhandlung hierarchischer Positionen in der Gruppe. Letzteres würde erklären, warum Thoma im Unterschied zu Trübner seine Fassung der Raufenden Buben, eine kompakte wie komplexe Komposition, in ein vertikales Format brachte.
Beim Kinderreigen hingegen, einem überwiegend Mädchen gewidmeten Querformat, stehen das harmonische Spiel, die Gemeinschaft und die Ordnung an erster Stelle. Runzelt der einzige Junge im Kreis daher etwas angestrengt die Stirn?
Jüngeren im Kreis wird etwas zugeraunt, die Norm des Spiels wird so tradiert. Auch wenn die Kinder unterschiedlich alt und versiert im Spiel sind, so begegnen sie sich augenscheinlich auf Augenhöhe.
Ob Thoma bewusst eine derartige geschlechtsspezifische Lesart seiner Gemälde beabsichtigte, lässt sich anhand der Quellen nicht sagen. Eine solche Interpretation würde er jedoch erwartet haben müssen angesichts damals vorherrschender Zuschreibungen von Verhaltenskodizes an Jungen und Mädchen.
Vereint erst im Atelier
Als das Gemälde 1895 auf der Kunstausstellung in Dresden gezeigt wurde, kritisierte es der Kunsthistoriker Paul Schumann in der Zeitschrift Die Kunst für Alle ungewöhnlich deutlich, wenn auch etwas willkürlich: „Weniger gut ist Hans Thoma vertreten mit seinem ‚Kinderreigen‘, da die Kinder nicht völlig bei der Sache zu sein scheinen“.
Der Kinderreigen wird im Atelier anhand von einzelnen Figurenstudien komponiert worden sein. Achtet man auf die vielfältigen Stellungen der nackten Füße und der Hände, ob angehoben oder abgesunken, so fällt auf, wie sorgfältig der Maler diese Details platziert hat: Nichts ist dem Zufall überlassen.
Auf die sukzessive Entstehung der Komposition an der Staffelei deutet auch das Lichtspiel. Die Beleuchtung wirkt nicht natürlich, sondern wie von vorn auf die Gruppe gerichtet. Diese eigenartige Lichtregie entrückt die Gruppe ein Stück weit in eine künstliche Sphäre, was von dem aufwärtsgerichteten und fragenden Blick des großen Mädchens im Vordergrund unterstrichen wird.
Dem völkischen Schumann war diese Ambivalenz, der durch die Mimik des Mädchens eingestreute Zweifel, in der Bildaussage offenbar ein Dorn im Auge, was sich durch den Vergleich zeitgenössischer Reigendarstellungen erklärt. Weit verbreitet waren zu jener Zeit etwa die Illustrationen aus dem Kinderengel. Spruchbüchlein für fromme Kinder, das erstmals 1858 in Dresden erschienen war.
Die darin enthaltenen Abbildungen waren als Holzschnitte nach romantischen Zeichnungen von Ludwig Richter und Carl Peschel entstanden. Luthers Brief an sein Söhnlein wird beispielsweise illustriert mit einem himmlischen Kinderreigen – einer Darstellung kindlicher Frömmigkeit ohne Fragen oder Zweifeln.
Kindheitsbild seiner Zeit
Möglicherweise ist es gerade ein Qualitätsmerkmal des Thoma‘schen Bildes, mit der Erwartung eines Kinderreigens als einem Hort von unangefochtener Fröhlichkeit zu brechen. Das Bildthema des Reigens sollte im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert noch häufiger aufgegriffen werden, so etwa bei Ludwig Knaus, Arnold Böcklin oder mit einem Todesgerippe bei August Roth.
Es passte in die Zeit der kritischen Auseinandersetzung mit den Inhalten und Methoden der Pädagogik. Thoma selbst neigte spätestens ab Mitte der 1880er-Jahre den Idealen der noch jungen Reformpädagogik zu, die er in seinem Kinderreigen bereits vorwegnahm.
1902, im Jahr des 50-jährigen Thronjubiläums des Großherzogs von Baden, schenkte Hans Thoma, damals amtierender Direktor, das Gemälde der Großherzoglichen Galerie.
Touren zu diesem Werk

Hans Thoma als Künstler
Daten und Fakten
Titel | Kinderreigen |
---|---|
Künstler*in | Hans Thoma |
Entstehungszeit | 1872 |
Inventarnummer | 995 |
Maße Bildträger | H 115,0 cm B 161,0 cm |
Maße Rahmen | H 135,5 cm B 181,0 cm T 8,0 cm |
Material | Leinwand |
Technik | Ölfarbe |
Gattung | Gemälde |
Abteilung | Neue Malerei (nach 1800) |
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