Vier Kühe
Doris Wolters liest Brigitte Kronauer
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Da stehen sie, sicher aufgehoben in ihren stabilen Umrissen, wie wir sie aus Kinderfibeltagen kennen. Lange, tischgerade Rücken, mächtig gewölbte Bäuche, vier im Vergleich zum massigen Rumpf zierliche Beine. Monumente der Sanftmut, Denkmäler der Geduld, unverändert imposant von altersher, Inbilder in sich ruhender Einfalt und unauslotbarer Weisheit zugleich. Ohne Mühe leuchtet ein, dass man das Rind seit Jahrtausenden, ob bei Ägyptern, Griechen, Kelten, Indern, ob in Gestalt von Kalb, Kuh, Ochse oder Stier verehrte. Es waren einmal Götter, Götzen, Idole. Falls man sie schlachtete, opferte man sie einer größeren Gottheit.
Nein, ich meine zunächst nicht die vier Hauptakteure auf Cuyps Flusslandschaft mit melkender Frau, sondern die dreidimensionalen Wesen, die für uns von Frühling bis Herbst auf den Weiden in ländlicher Umgebung ein (noch) normaler, und mich immer bewegender Anblick sind. Sie scheinen denen auf Cuyps Gemälde aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, unberührt vom Erosionsschaffen der Zeit, zum Verwechseln ähnlich zu sein. Bis auf eine erhebliche Kleinigkeit. Die Euter moderner Kühe wurden seit jener Zeit ins Ungeheuerliche gezüchtet. Im Vergleich mit den vor über 350 Jahren gemalten ermisst man den Grad ihrer Verunstaltung.
Es gibt bei Ausflügen aufs Land, in die Landschaft, die wir aber nicht als Synonym für reine Natur sehen sollten, gelegentlich den singulären Moment – und wer ihn je bewusst erlebt hat, rechnet bei jeder neuen Begegnung damit – , wo die erste Kuh uns ausdrücklich den Blick zuwendet und sich nach einigem Zögern in Bewegung setzt, direkt auf uns zu, ganz persönlich auf uns zu, bis der Zaun sie stoppt. Ihre Herdennachbarinnen folgen ihr. Schließlich stehen alle, dicht gedrängt in schnurgerader Reihe da und sehen uns eindringlich an. Das tun sie mit solch beschwörender Intensität, dass es uns in Verlegenheit bringt. Denn offensichtlich wollen sie etwas, stellen eine stumme Frage und trauen uns, den Überforderten, eine überzeugende Antwort zu. Man kann sich eigentlich nur wie der heilige Franziskus in einen Bibelspruch retten, der sie aber wohl nicht zufriedenstellt. Wenn sie lange genug gewartet haben, wenden sie sich ab. Sie kommen aber beim nächsten Mal hartnäckig wieder.
Hier jedoch, auf Cuyps Gemälde, hat sich der Widerhaken etwas anders in mir festgesetzt.
Natürlich, man empfindet es auf Anhieb, liegt über dem Ganzen der entrückende Frieden eines durchsonnten Abenddunstes, der vom jenseitigen, beinahe mystisch anmutenden Flussufer ausgehend die handfeste Realität des Diesseitigen überflutet oder, umgekehrt und gegen die Leserichtung, von den braun glänzenden Erd- und Graswällen über den schwach leuchtenden Wasserspiegel hinweg ins Sublime, ja Utopische entschwebt. Das aber wäre, Himmel und Schlagschatten beweisen es deutlich, nicht im Sinne der Lichtquelle. (Die Zauberei mit den Goldnuancen und ihrem Verflüchtigen in absolute Helligkeit hatte Cuyp von seinem ein Vierteljahrhundert älteren Kollegen Jan van Goyen gelernt).
Eine Idylle? Ein Bild der Harmonie? Durchaus nicht! Der Maler arbeitet nämlich, das ist der Köder, gezielt gegen die milde Überredungskraft der Beleuchtung an, lässt sie alle Gegenstände erfassen: um ihr umso markanter zu widersprechen,
Das kommt nicht daher, dass wir, Abendfrieden hin oder her, eine Darstellung bäuerlichen Arbeitsalltags sehen, konfrontiert mit der Feierlichkeit eines unermesslichen, aller Geschäftigkeit entzogenen Raums. Arbeit und naturausbeutende Zivilisation treten hier nicht auf als Gegenpol zu ruhender Natur.
„Das Hausrind ist überall der Sklave des Menschen und zwar seit uralter und vorgeschichtlicher Zeit“, schreibt Alfred Brehm, aber den Cuypschen Kühen fehlt ja nicht nur der
Rieseneuter, sondern in ihren Ohren gibt es auch nicht die gelben Plastikmarken, die heutzutage ihre schönen Köpfe, deren Hörner den Kälbern abgesägt werden, immer zu veräppeln scheinen. Verglichen mit zeitgenössischer Massentierhaltung und industriellem Melken sind die nur kurz bei ihrem Weiden unterbrochenen Tiere sowie die gemächliche Handarbeit der Frau im Freien und die Glanzlichter auf den glasierten Milchkrügen, kugelrund wie ihre Besitzerin – weit weg von den Sorgen unserer Milchbauern – eine beschauliche Demonstration des passablen Zusammenlebens von Mensch und faunischer Kreatur. Und das zu einer Zeit, in der jener Dreißigjährige Krieg, der so viele Landstriche auch in den Niederlanden verwüstete, erst zwei Jahre, und das keineswegs ohne Rückfälle, beendet war. Ein allgemeines Phänomen: Die holländischen Maler des 17. Jahrhunderts wandten den kriegerischen Zerstörungen, die ihr Leben mit prägten, den Rücken und der Landschaft, aus künstlerischen und psychologischen Gründen, das Gesicht zu.
Cuyp, obschon gerade er, der sich in unterschiedlichsten Arbeitswelten und den Bedingtheiten von „Menschen in jeder Lebenslage“ (Fromentin), auskannte, es hätte besser wissen müssen und zweifellos wusste, Cuyp malt seine ganz und ausschließlich ins Melken vertiefte Bäuerin so, als säße sie in einem gemütlichen Wohnzimmer, adrett gekleidet, ein bieder bürgerlicher Fremdkörper im lehmig erdigen Umfeld.
Warum stellt er sie so dar? Warum fällt es so auf? Es ist ja nicht einfach ihre, wie schon erwähnt, milchkrugartige Rundlichkeit, nicht nur das betont Propere, ja Herausgeputzte, das sie in diesem Ambiente gezielt fragwürdig macht.
Es sind die Tiergestalten und der Kontrast zu ihnen.
Sperrig und alles Idyllisch-Genrehafte störend, halten sie mit angehobenen Häuptern in alle vier Himmelsrichtungen Ausschau. Bei derjenigen Kuh, deren Vorderteil verdeckt ist, würde es kaum anders sein, wenn man sie vollständig sähe. Der Maler ist aber kein Schematiker, daher die halbe Ausnahme. Ihre Konturen sind ohne ästhetische Beschwichtigung. Bei der linken und besonders der rechten Kuh betont Cuyp das Ungelenke zusätzlich durch Freistellung vor dem Himmel. Die Bäuerin dagegen befindet sich am tiefsten Punkt. Die Kuh, mit der sie beschäftig ist, überragt die Sitzende um mehr als das Doppelte. Der Horizont der Frau ist der weitaus engste. Das Gesichtsfeld reicht nur bis zum Euter. Das genügt ihr offensichtlich.
Völlig anders die Tiere, die „Sklaven des Menschen“! Den Umkreis dessen, was ihr Blick erfasst, kennen wir nicht. Wir ahnen aber, gerade weil wir nirgends einen Zielpunkt erkennen, dass er zwar nicht unendlich ist, aber ins Unendliche geht, nicht auf eine konkret bestimmte Sache, sondern, daher der meisterliche Kunstgriff der vier Himmelsrichtungen, gewissermaßen zentrifugal, ins Unbestimmte. Auch das jenseitige Schimmern des Flussufers ist kein Trost, keine Verheißung. Das macht ihr stummes, für mich schrilles Hinhorchen so desperat, ihr Suchen und Starren, das diesmal nicht uns gilt, von denen keine Antwort erhofft wird, vielmehr ohne Umschweife der Existenz an sich, ungeschützt von den Ablenkungen der Kultur.
Ist das für Kühe, diese warmen, gemütvollen Körper, die uns doch immer durch puren Augenschein, fern jeder metaphysischen Beunruhigung, in wohlige Stimmung versetzen, nicht eine Unterstellung, ungehörig vom Maler, ungehörig von mir? Haben denn ausgerechnet sie, während der ahnungslose Mensch in bescheidener Manierlichkeit seine Aufgabe erfüllt, ein Recht, derart wüst unter dem großen Himmel die Sinnfrage herauszuposaunen?
Sind Kühe dazu in der Lage? Hier verkörpern sie die nackte Kreatur schlechthin. Malerei, die uns wirklich berührt, stellt Landschaft und was dazu zählt, nicht zwangsläufig als symbolische, aber als beseelte, von Seele durchformte dar. Darüber hinaus bietet sie, im Gegenzug, dem Betrachter eine Veranschaulichung seines eigenen, individuellen Seelenzustands. Deshalb darf er das Bild, man könnte sagen: rücksichtslos, zu seinem Eigentum ernennen, wie ich die vier ratlos forschenden Kühe, die es eigentlich so gut haben im abendlichen Gold.
Über die Autorin
Brigitte Kronauer wurde 1940 in Essen geboren. Sie schrieb Romane – bei Klett-Cotta erschienen unter anderem Frau Mühlenbeck im Gehäus (1980), Teufelsbrück (2000), Verlangen nach Musik und Gebirge (2004), Zwei schwarze Jäger (2007), Gewäsch und Gewimmel (2013) – Erzählungen und Essays. Zuletzt erschien 2019 der Roman Das Schöne, Schäbige, Schwankende. Sie hatte Poetikdozenturen in Heidelberg, Wien, Leipzig, Zürich und Tübingen. 2005 erhielt sie den Georg-Büchner-Preis, 2011 den Jean-Paul-Preis und 2017 den Thomas-Mann-Preis. 2019 verstarb Kronauer in Hamburg.