Das Bodetal im Harz, gemald von Carl Friedrich Lessing. ZU sehen ist ein bewaldetes Tal mit einem Bachlauf in der Mitte. Auf einem Felsen ruhen vier junge Männer.
Carl Friedrich Lessing: Das Bodetal im Harz

Kathrin Schmidt

Kuhlmanns Visionen

Doris Wolters liest Kathrin Schmidt
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Wiszniewski hockte mit den anderen noch nahe beim Feuer am Flussufer, während die drei Bielers, von Stein zu Stein springend, sich aufgemacht hatten, das Wasser zu überqueren, um nach Kuhlmann zu sehen. Bar jeden Kriegsgeräts, jeder Rüstung lag der im Grase und grunzte. Zu viel war gewesen, was er als Flüssignahrung zu sich genommen hatte am gestrigen Abend, so dass er schließlich auf steinernem, grasbewachsenem Kleinplateau zur Ruhe gekommen war, während die Gefährten für die Nacht den Schutz des steil aufragenden Felsens gesucht und dafür die Bode durchwatet hatten. Nur Monkmeyer hatte darauf bestanden, bei Kuhlmann zu bleiben, damit er bei Dunkelheit nicht etwa ins Flüsschen falle, mit dem Gesicht ins Wasser, mit dem Kopf auf Granit. Kopf auf Granit war eine schwere Drohung für Monkmeyer, dessen Vater einst an einer Bordsteinkante umgeknickt und in die Irre gestürzt war, die ihn seitdem umnachtete. Wiszniewski wusste davon. Er arbeitete mit Monkmeyer im Baubetrieb Ahlfischer in Treseburg. Auf unterschiedlichen Stufen der Hierarchie zwar, was ihnen aber nichts ausmachte, denn sie kannten sich von Kindesbeinen an und waren schon als dünne Heringe gemeinsam durch manch dicke Luft geschlittert.

Kuhlmann war neu. Über ihn hatten sie ein bisschen lachen müssen, als es an ihre diesjährigen Rollen gegangen war. Wie ausm Mustopp, war es Wiszniewski entfahren, als Kuhlmann etwas über seine Aufgabe hatte erfahren wollen. Er war aus Berlin zu ihrer Rollenspielgruppe gestoßen, und sie hatten ihm fürs Erste den Part einer Geisel zugeteilt. Zum Kennenlernen sozusagen. Fünf Harzschützen, jene legendären Partisanen, die das Kernland des Harzes gegen alle Seiten verteidigten und sie daran hinderten, ins Gebirge vorzustoßen, standen jeweils zwei Söldnern der katholischen Liga, Wallensteins und des Kaisers gegenüber und gaben sich mannhaft. Wallensteins Zweiertruppe hatte eine Geisel gegen eine Kuh eintauschen sollen, die die Bielers in Form eines riesigen schweinernen Rostbratens bei sich trugen. Sie verteidigten ihn. Geisel blieb also Geisel, hatte aber vom Rostbraten danach freilich ein gutes Stück abbekommen… Ja, einen Teil ihres Urlaubs gaben sie jedes Jahr dran, kostümiert andere Zeiten aufzusuchen als dieses 21. Jahrhundert, das auf einmal so dicke damit tat, von Leuten über dreißig sowieso nicht mehr verstanden zu werden. Es stimmte schon: Irgendwie waren sie alle digital immigrants und brauchten die Sekunden, die bei einem Blickwechsel verstrichen. Aber das Immigrantendasein hatte zumindest ausgereicht, übers Netz nach Interessenten wie Kuhlmann zu suchen, die in den Dreißigjährigen Krieg zu ziehen bereit waren. Das Netz war es auch gewesen, das ihnen Bezugsquellen für Helme, Rüstungen und Schwerter offenbart hatte. Ja, sie waren gut aus- oder besser eingerüstet, wie Wiszniewski stets meinte. Zehn, zwölf Leute kamen noch jedes Mal zusammen.

Die Bielers standen etwas ratlos um den Schlafenden, während Monkmeyer in seiner modergrünen Kluft im Schlamm stocherte. Vorsichtig streckte die Sonne ihre Fühler nach der Bergflanke aus und schob sie über die Wasseroberfläche langsam in ihre Richtung. Eine Wolke wollte den Eindruck erwecken, sich zwischen den Gipfelstöcken verfangen zu haben, aber kein Mitleid kam auf: Sie würde, wenn der Tag sich durchgesetzt hatte, hinweggefetzt sein. Hoher Sommer bereitete sich darauf vor, sein Grün ins Braun zu schicken. Dass es auf dem Wege dorthin in Rot und Gelb lodern würde, ahnte es derzeit nicht, wie auch die Männer nicht ahnten, was Kuhlmann zum überstürzten Trinken gebracht hatte am Abend zuvor, und was auch nicht aufgehört hatte, während er schlief und während sie alle geschlafen hatten. Monkmeyer, zugegeben, in Habacht-Position.

Wiszniewski war von den Männern ums Feuer der einzige, der einen Blick für das Geschehen dort drüben hatte. Seinen Freund sah er erst, als er die Augen zusammenkniff. Monkmeyer schien sich der Landschaft anverwandelt zu haben, während Kuhlmanns weißes Hemd von ihr abstach. Gestern hatte es Bekanntschaft geschlossen mit dem Inhalt einer Ketchupflasche, der, nun getrocknet, immer noch nach Blut aussah. Kuhlmanns Hand ruhte nahe der vermeintlichen Wunde auf dem Bauch und ließ ihn mehr tot als lebendig erscheinen, was Wiszniewski beunruhigte. Er musste sich bemühen, seine Gedanken vom Flattern abzuhalten.

Gemälde Waldlandschaft mit dem schlafenden, von Tauben behüteten Knaben Horaz von Jakob Philipp Hackert
Carl Friedrich Lessing: Das Bodetal im Harz

Kuhlmann kannte diese Gegend. Als Vierzehnjähriger war er, ein Jahr, bevor sein Land sich zwar nicht in Luft auflöste, aber dennoch von der Bildfläche verschwand, mit seinem Freund Hettcher zu einer Harzwanderung aufgebrochen. Auf seinem Rücken das Zelt, auf dem seines Freundes der Rucksack mit baumelndem Kochtopf. Durch dieses Tal waren sie gewandert und hatten nach Königshütte noch ein Stück die Warme Bode begleitet, ehe sie im Wald abgetaucht waren. Nach Entdeckung und Abenteuer stand ihnen der Sinn, der schon mal mit ihnen durchgehen konnte. Der Forst hatte Pilze bereitgehalten, die sie, in Scheiben geschnitten, nach dem Wenden in Ei und dem Wälzen in Semmelbröseln brieten. In manchem Dorfkonsum hatten sie Brot und Malzbier gekauft, Gemüse und Obst jedoch über Zäune besorgt. Einen Platz fürs Zelt fanden sie überall, und als sie es am siebten Morgen verlassen wollten, stand draußen ein Mann in Zivil, der sie erwartet zu haben schien. Er ließ sich herab, eine Klappkarte zu zeigen, die sie mit verquollenem Morgenblick gar nicht wahrnehmen konnten, und forderte sie auf, ihm ins nächste Dorf zu folgen. Dabei beulte sich die Tasche seiner weiten Hose nach vorn aus, als richte er eine Waffe auf sie, was ihre Glieder ins Schlottern brachte. Sicher, sie wussten, dass sie sich in Grenznähe aufhielten, wären aber nicht darauf gekommen, ins Sperrgebiet eindringen zu wollen. Der Mann brachte sie zum Polizeirevier und vernahm sie ein. Bellte, dass nahe Rüdersdorfs, wo sie damals gewohnt hatten, ein Mann ermordet worden sei. Er müsse natürlich wissen, ob sie mit diesem Mord etwas zu tun hätten und sich womöglich nach drüben absetzen wollten. Hettcher reagierte anders als Kuhlmann, voller Angst. Hettcher schiss ein. Hettcher saß auf dem Stuhl und schlotterte, flehte. Hettcher hatte ein zur unkenntlichen Fratze verzogenes Gesicht, in dem die Fragen, die in sein Jungsherz gestoßen wurden, als Verzweiflung wieder an die Oberfläche kamen. Unbeantwortet. Hettcher tat Kuhlmann leid, er wusste nicht, was er hätte tun können, ihn wieder zu sich zu bringen. Dem Kerl bereitete es offenbar zunehmend Vergnügen, die Folgen seiner Befragung zu registrieren, die nun schärfer und ganz auf Hettcher konzentriert vonstattenging.

Nach Stunden gellte das Telefon, brachte den Mann zur Räson, der sich auf einmal straffte, sie eindringlich verwarnte und in die Jugendherberge des Nachbarortes befahl, falls sie vorhätten, noch länger in der Gegend zu verweilen. Ihren Aufenthalt dort würde er überprüfen.

Erst einmal hatte Kuhlmann Hettcher auf der Toilette aus den stinkenden Hosen geholfen, die er später in einer Mülltonne versenkte. Dann waren sie losgegangen, tatsächlich zum Nachbarort, aber nur, um dort den Bus nach Nordhausen zu nehmen oder in eine andere Stadt mit einem Bahnhof, von wo aus ein Zug sie wegbefördern würde, zurück, in Richtung Berlin.

Diese Begebenheit hätte er womöglich ein, zwei Jahre später als lächerlich einzuordnen gelernt, wäre nicht Hettcher am Straßenrand, gerade, als ein Lastwagen sich näherte, zusammengebrochen und unter die Räder geraten. Seitdem hatte er nur noch einen Fuß, und seitdem griffen die Träume nach Kuhlmann, die Visionen, mit denen er leben gelernt hatte, denen er jedoch nicht ausweichen konnte.

Kuhlmann hielt die Augen geschlossen, während die anderen auf ihn niederblickten und sich fragten, ob es ihm gutgehe. Geht es ihm gut?, rief ihnen Wiszniewski vom gegenüberliegenden Flussufer zu. Alles im grünen Bereich, murmelte Kuhlmann da, die Augen geschlossen, und wusste, dass er nun bald würde aufstehen können, als wisse er nicht, was ihn gestern geritten hatte.

Über die Autorin

Foto der Autorin Kathrin Schmidt

Geboren wurde Kathrin Schmidt 1958 in Gotha. Ihr Roman Die Gunnar-Lennefsen-Expedition (1998) wurde mit dem Förderpreis
des Heimito-von-Doderer-Preises und dem
Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1998 ausgezeichnet. Für ihren Roman Du stirbst nicht erhielt sie 2009 den Preis der SWR-Bestenliste und den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien waschplatz der kühlen dinge. (Kiepenheuer & Witsch, 2018).

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