Caspar David Friedrichs Felsenriff am Meeresstrand
Caspar David Friedrichs Felsenriff am Meeresstrand

Katja Lange-Müller

So groß wie klein – ein Eisberg von Stein

Doris Wolters liest Katja Lange-Müller
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Was mag jemand, der nicht lesen, aber – mit oder ohne Brille – gut genug gucken kann, erblicken auf und in Caspar David Friedrichs erstaunlich kleinem Gemälde „Felsenriff am Meeresstrand“? Wenn der Jemand ein Nordmensch wäre, ein Seefahrer, ein Fischer womöglich, würde er vermutlich zunächst meinen, der finster-bläuliche, gar nicht mal so kompakte Brocken vor seinen Augen sei ein Eisberg. Doch bei genauerem Hinschauen bemerkte er sicher das zerklüftete, moosig grün bewachsene Ufer und rechterhand Gesträuch, belaubtes Gesträuch. Dieses Meer ist also nicht das Polarmeer, weder das nördliche noch das südliche, darum ragt daraus auch kein Eisberg hervor, sondern ein nacktes, enorm gezacktes, durch marine Erosionen oder infolge eines Seebebens entstandenes Gesteinsbündel, würde er sich sagen – und trotzdem seinem ersten Eindruck nachhängen, den auch ich nicht loswerde, obwohl ich alphabetisiert bin, also weiß, welchen Titel der Maler selbst seinem Werk gab.

„Erstaunlich klein“, schrieb ich in meinem ersten Satz, sei das „Felsenriff am Meeresstrand“. Nein, verglichen mit dem, was wir sehen, und gemessen an dem Sog, den das Felsenriff unter einem gewaltigen Himmelsgewölbe auf uns ausübt, ganz so, als wäre es magnetisch und wir ebenfalls, ist dies gerade einmal zweiundzwanzig Zentimeter hohe und dreißig Zentimeter breite Werk in Wirklichkeit fast winzig, wie man so sagt: eine Miniatur. – In Wirklichkeit wohl, aber in Wahrheit? In Wahrheit, falls man das, was wir, dies Gemälde betrachtend, fühlen, Wahrheit nennen darf, ist es riesig, nein, mordsgewaltig, denn es geht in alle Richtungen über die Bildränder hinaus, und der Rahmen, der es umgibt, kann den Eindruck von endloser Weite noch weniger fassen als wir. Und falls das Wort Magie von dem Wort magnetisch herrühren sollte, dann wäre das „Felsenriff am Meeresstrand“ natürlich magisch. Natürlich? Wieso natürlich? Ist Magie dem Wesen nach nicht vielmehr unnatürlich? Wenn wir unnatürlich mit surreal gleichsetzen, dann schon!

Caspar David Friedrich, der ja nun alles andere als ein Empiriker war, sah die Dinge dieser Welt indem er sie deutete. Aber ist nicht jede menschliche Wahrnehmung, selbst die streng beobachtende oder die bloß betrachtende (wie jetzt meine) immer auch Interpretation?
Caspar David Friedrich hat uns seine Deutungen malend mitgeteilt, vielleicht um seiner Einsamkeit zu entkommen. Und gewiss hat er die Wirkmacht dieses Bildes absichtlich herbeigeführt, ebenso wie die ganz und gar nicht zufällige Ähnlichkeit zwischen diesem Riff und einem Eisberg; denn beinahe kristallin strukturiert und schroff, wie manchmal eben auch Eisberge, ragt es schräg aus dem Meer, ja, es kippt ihm förmlich ins Offene entgegen, weg von uns, die wir dem furchtgebietenden, zackig abgebrochenen Felsnadelhaufen einigermaßen sicher gegenüberstehen am Westufer der Isle of Whigt bei Bournemouth, jenem Küstenabschnitt, der paradoxerweise als der wärmste, trockenste, sonnigste Großbritanniens gilt und den des Malers Füße nie betraten. – Ich habe mir diverse Fotografien und ältere Darstellungen dieser Inselwestspitze angesehen, doch auf keiner fand sich solch ein Felsenriff und das abgebildete schon gar nicht.

Caspar David Friedrichs Felsenriff am Meeresstrand. Zu sehen ist ein schroffer Felsen, der spitz aus dem Meer ragt.
Caspar David Friedrichs Felsenriff am Meeresstrand

Also nicht abgebildet, sondern eingebildet, frage ich mich. Nein, ein Maler wie Caspar David Friedrich muss nicht geschaut haben, was er gesehen hat. Der Irrtum, dem man, die sogenannte „gegenständliche“ Malerei beurteilend, gerne mal aufsitzt, besteht ja mitunter gerade darin, dass man glauben möchte, das bildlich Dargestellte existiere, so oder so ähnlich, auch in der Realität. Und eben das ist, salopp gesagt, der Trick – und dann doch wieder keiner. Landschaft, vielleicht wäre Seeschaft in dem Fall der passendere Begriff, ist fühlbar, wie alles, was wir sehen. Wir Menschen fühlen immer, mit offenen Augen und mit geschlossenen auch. Wir fühlen, wenn wir hören, wir fühlen, wenn wir schnuppern, wir fühlen, wenn wir tasten. Und hätten wir, wie manche von uns, weder Augen noch Ohren noch Nase noch Hände, wir fühlten trotzdem.

Von milchigem, ins Violette changierendem Blau ist der endlose Himmel in diesem Bild, und ganz leicht gewölbt, wie um die Weite des Himmels und des Meeres noch zu betonen, die weiß schimmernde Horizontlinie, am hellsten dort, wo das Felsenriff sich erhebt, nein, sich aufbäumt, als sei es soeben erst geboren; die leuchtenden Wolkenbäuche diagonal darüber könnten den Vorgang bezeugen, wenn sie das könnten. Und dieser fein strukturierte bläulich-finstere Brocken, der den zarten Wölkchen entgegenstrebt, wächst vielleicht noch oder kippt demnächst. Das Gebilde, wie ich es nun lieber ungenau nennen will, hat, sicher nicht nur vor meinen Augen, eindeutig Schlagseite; es schwimmt mehr als es steht und ist so fest wie fragil und instabil – und womöglich weniger das, was zu sein es vorgibt, denn eine Metapher. – Nein, ein Gleichnis für den Menschen ist es nicht; die Spekulation ginge nun meinerseits zu weit hinaus ins Womögliche, wäre auch eher gesucht als gewagt. Aber warum sonst kann ich den Blick nicht lösen von diesem etwas, das eben doch irgendwie kein totes Gestein ist und das mir näher und näher kommt, obwohl es von mir fortstrebt? Ich bin, rein physisch, viel größer als Caspar David Friedrichs Gemälde, dennoch fühle ich, je länger dies Felsnadelbündel im endlosen Meer anstarre, wie ich kleiner und kleiner werde, unendlich klein.

Über die Autorin

Porträt der Autorin Katja Lange-Müller

Katja Lange-Müller wurde 1951 in Berlin geboren. Nach einer Schriftsetzerlehre war sie sechs Jahre als pflegerische Hilfskraft auf geschlossenen psychiatrischen Frauenstationen tätig. 1979 – 1982 studierte sie Literatur in Leipzig. 1984 siedelte sie nach West-Berlin über.

Katja Lange-Müller erhielt 1986 den Ingeborg-Bachmann-Preis, 1995 den Alfred-Döblin-Preis, 1996 den Berliner Literaturpreis. 2001 kam der Preis der SWR-Bestenliste für Die Letzten hinzu, 2012 / 13 war sie Stipendiatin der Villa Massimo, 2013 erhielt sie den Kleist-Preis, 2016 die Frankfurter Poetik-Dozentur sowie 2017 den Günther-Grass-Preis. Zuletzt erschien Drehtür (KiWi, 2016).

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