Abbildung von Marie Ellenrieders Selbstbildnis. Zu sehen ist ihr Kopf. Sie trägt eine Ketter und Ohrringe. Ihre schwarzen Haare sind nach oben gesteckt.
Marie Ellenrieder: Selbstbildnis

Martin Walser

An alle, die mich anschauen.

Doris Wolters liest Martin Walser
Mit freundlicher Unterstützung von Linon. Medien für Museen.
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Ich habe mich schön gemalt. Das weiß ich. Das kann ich. Warum ergreife ich jetzt auch noch das Wort? Um Ihnen, die mich, so schön gemalt, anschauen, mitzuteilen, dass ich, so, wie ich mich gemalt habe, nicht war. Aber wenn ich mich so gemalt hätte, wie ich war, hätte ich mich nicht so schön malen können. Ich könnte beim besten Willen nicht sagen, ob ich mich meinetwegen oder Ihretwegen so schön gemalt habe. Ich frage mich jetzt selber, wenn ich sehe, wie schön ich mich gemalt habe, ob das erlaubt sei, sich so schön zu malen. Und ich sage, Ja! Es ist erlaubt, sich so schön zu malen. Kunst ist dazu da, alles schöner zu machen als es ist. Wozu sonst Kunst! Was ich in Konstanz, Karlsruhe und in Rom gelitten habe, ist nur vorzeigbar als Schön gemaltes. Das heißt: als Verschwiegenes. Und jetzt komme ich doch noch auf Gedanken. Wie, wenn Sie, die mich anschauen, sich nicht selber sagten: Sie hat sich zugemalt. Sie hat sich schön gemalt, um zu verbergen, was sie mitgemacht hat. Diesem Bild sieht man nichts mehr an! Was muss sie mitgemacht haben, dass sie sich so schön malen musste! Das können Sie, die Sie mich anschauen, doch selber denken! Ich bin fast glücklich, wenn ich sehe, dass man mir fast nichts mehr ansieht. Sie, die mich anschauen, werden nicht sagen: Sie war so und so. Sie können sich kein Urteil erlauben über mich. Meine Augen! Mein Mund! Darauf kam es mir an. Die Nase, geschenkt. Aber meine Augen, mein Mund. So schön und so verschwiegen. Und , das gebe ich zu, die mich beschirmenden Locken. Löckchen sind es! Die verdanke ich der malenden Hand, deren Übermut ich manchmal keine Wahrheit entgegenzusetzen habe.

Abbildung von Marie Ellenrieders Selbstbildnis. Sie trägt ein schwarzes Kleid und hat eine Hochsteckfrisur.

Sie haben natürlich gemerkt: Wer sich so ins Schöne verschließt, der hat etwas mitgemacht.  Die zeitgenössische Kränkung. Die Anmaßung derer, die das Sagen haben. Ich hatte nur das Malen. Und ich habe mich so schön gemalt, dass mir keiner mehr zu nahe kommen kann. Allerdings, in dieser Abstandsgewinnung gestehe ich , was ich durch eben diese Abstandsgewinnung verberge. Aber anders als der größtmögliche Widerspruch zu sich selbst ist Kunst nicht denkbar. Das ist das, was ich in meinem römischen Tagebuch Berufstreue genannt habe.

Zur Vermeidung eines trivialen Missverständnisses: Ich habe mich nicht schöner gemalt als ich bin. Ich habe mich schöner gemalt, als man sein kann

Und warum? Es ist nicht vorstellbar, hoffe ich, dass dieser mein gemalter Mund zum Beispiel sagen könnte: Was der Experte XY in der „Welt“ geschrieben hat, ist zum Kotzen! (Ich habe jetzt mal einen Zeitungsnamen erfunden; Zeitungen geben sich ja gern großkotzige Namen.) Sehen Sie, und eben deshalb habe ich meinen Mund so schön gemalt, dass Sie nicht mehr daran denken müssen , ich hätte gesagt, was der Experte XY  in der“ Welt“ geschrieben hat , sei zum Kotzen.

 Wenn Sie mir noch gestatten, meinem Selbstbildnis einen Titel zu geben, schlage ich vor: Die schöne Verschwiegene. Oder habe ich dadurch eben das zugegeben, was ich doch verschweigen  will: Ich wollte nämlich verhindern, dass Sie sich über mich ein Urteil erlauben. Dass Sie glauben, jetzt kennten Sie mich. Allerdings wollte ich die, die Sie nicht kennenlernen sollten, schön malen. Das habe ich getan. Das ist mir gelungen. Das weiß ich. Auch wenn es, weil ich es so betone, so klingt, als wüsste ich es doch nicht so sicher. 

Wenn Ihnen mein Bild noch mehr oder etwas ganz anderes sagt, soll es mir recht sein. Und Ihnen auch. 

Es grüßt Sie

 die Künstlerin.

Über den Autor

Porträt von Martin Walser. Er trägt einen Hut und hat einen blauen Schal an.

Martin Walser wurde 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren. Er studierte Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie. 1951 wurde er in Tübingen mit einer Arbeit über Franz Kafka promoviert. Seit 1953 wurde er zu den Tagungen der Gruppe 47 eingeladen, die ihn 1955 auszeichnete. Er schrieb Romane, Novellen, Theaterstücke und erhielt zahlreiche Literaturpreise. Darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis und 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zuletzt erschien Mädchenleben oder Die Heiligsprechung.

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