Detail des Porträts eines Gelehrten, das vom Meister des Marienlebens gemalt wurde
Meister des Marienlebens: Bildnis eines Gelehrten

Nora Gomringer

Dä schlaue Kääl

Sebastian Mirow liest Nora Gomringer
Mit freundlicher Genehmigung von Linon. Medien für Museen.
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isch ben ene schlaue kääl sat och ming frau
vielleich dä schlauste vun janz kölle
isch lese un lese
un dorüver verjess isch ald ens de zigg
un dann eines daachs kütt dä/ene möler
un frogte misch, ov isch för en posiere dät
su als jelehrte, jebildete kääl
un do han isch jo jesaat – ess doch klor
dat hät ewer lang jedourt – isch moot lang stell setze
ming frau hät jesaat, dat kütt nur vum lese, dat schlausinn
un dat lang setze, dat hät mer dann dovun.

Sehen Sie mal hin. Ich bin gerade unterbrochen worden. Mein Finger markiert die Stelle. Das Buch – wenn man wie ich keine Brille trägt und ein eher zurückhaltender Charakter ist – ist mein Attribut für gebündeltes Wissen, das ich mit mir herumtrage. Die Zeit der Buchbeutel ist vorbei! Willkommen in der Welt von morgen! Das Buch ist Zeichen für’s Lesen und eventuell sogar für’s Schreiben. Das ist in meinen Zeiten nicht unbedingt voneinander abhängig. Der eine kann schreiben, der andere lesen, nicht alle können beides, aber immer mehr Menschen, natürlich Männer!, lernen dazu. Langsam aber sicher. Das ist insgesamt ziemlich modern, was der Maler da gemacht hat. Also mich mit dem Finger im Buch zu zeigen. Überhaupt: mich. Ich bin ja kein Ritter oder Geistlicher, dem ein Porträt zustünde. Ich bin einer. Ich vertrete hier einen Stand. Und ich bin ein weltlicher Mensch, also vielleicht sogar ein Self-made-Exemplar. Geboren dann und dann, aufgezogen da und da, dann in Köln angekommen, sesshaft geworden, mit dem Unterrichten begonnen. So vielleicht. Dass mein Horizont weit ist, das sehen sie schon daran, dass meine Figur hier bildfüllend zu sehen ist, und die Landschaft weit und miniaturisiert. Ich stehe im Mittelpunkt. Ich als ich. Meine Augen … ja, ich weiß – ob das wirklich meine Augenfarbe war oder ob er einfach am Grün sparen wollte, das Grau eventuell für mehr Geist als die grüne Froschnatur stand, damals … alles möglich.

Aber mein Blick, sehen Sie das? Ich sehe Sie an. Und ich blinzele nicht. Ich weiche nicht aus. Dieser komische Umstand, dass mein linkes Auge so ein bisschen kleiner ist. Das ist alles so gewollt. Das bin ich. Der Maler hat mich festgehalten hier. Und bei aller Anonymität gibt es hier mein sehr persönliches Ich. Ich stehe fest zu meiner Position, die ich bezogen habe, als ich eingewilligt hatte, mich als Gelehrten malen zu lassen. Das bin ich. Ist  schon verblüffend. Der Maler meinte, dass es für ihn etwas Besonderes sei, mal nicht Engelein, solche mit Flügeln und Schwertern oder die heilige Gottesmutter in allen Lebenslagen zu malen und manche gar nicht als Modelle, sondern aus dem Kopf. Also ich saß. Ich saß stundenlang vor ihm. So einen wie mich, den musste man leibhaftig vor sich sehen. Bei der Mutter Maria kann man schon mal improvisieren. Die vergibt einem ja wahrscheinlich.

Der Zeigefinger. Das ist schon schräg … in den Marienbildern wimmelt es von Zeigefingern, die der Gottesmutter erst auf den Bauch zeigen, dann welche, die auf das Kind und dann den großen Jesus zeigen und so weiter. Ständig wird auf etwas verwiesen. Hier dient mein Finger mir und meiner Lesestelle im Buch. Das Format des Büchleins, na, wahrscheinlich so zehn mal zwölf Zentimeter mit einer kleinen Schließe ist nicht ungewöhnlich. Gut gebunden ist es aus drei Papierbögen und von einem feinen, bearbeiteten Leder umschlossen. Mein Attribut ist in bestem Zustand. Es ist mir kostbar. Der Nerzbesatz ist fein. Furchtbar reich an materiellen Gütern bin ich aber nicht. Ich trage einen braunen, geschlossenen Mantel, aber auch der weist mich als Mann meiner Zeit aus. Kein offener Umhang, sondern ein fein geschneiderter Mantello um meine Schultern. Das ist doch was! Und eine Kappe im gleichen Ton, die mein Haar bedeckt. Das gehört sich so. Ich trage eigentlich immer eine Kopfbedeckung. Auch beim Zubettgehen.

Porträt eines Gelehrten, der mit einem Buch in der Hand dargestellt wurde

Der Maler und ich haben bei der Entstehung des Bildes genau gewusst, in welchem Jahr es entstanden ist, also haben wir das nicht vermerkt. Und über die Jahre haben wir versäumt, es uns zu merken. Und als ich starb, war der Maler schon lange tot und ich hatte das Datum, das Jahr, fast die ganze Geschichte, also ich als Modell et cetera vergessen. Naja, aber die neuen Gelehrten strengen sich ja an, solche Dinge herauszufinden.

Der Maler hat etwas gesummt, während er gearbeitet hat. Eine fremde Melodie. Er hat gesagt, er hätte im Norden studiert, am Meer. Das Land nennt Ihr heute Holland und Ihr beschwert Euch über die lauten Kinder der Holländer auf Campingplätzen. Campingplätze – das Wort muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Das ist ja gar nicht deutsch. Als Gelehrter meiner Zeit müsste ich es ins Lateinische übertragen und dann fiele mir natürlich ein, dass campus das Feld heißt und so könnte ich es schon herleiten.

Wenn einer heute gelehrt ist, dann hat er auf jeden Fall eine Brille auf der Nase und Bücher, oft die seiner eigenen Heimbibliothek, im Hintergrund, wenn man ihn zeigt. Das ist eine ganz andere Bildsprache. Der Mensch umgeben von Büchern anderer. Das ist Gelehrsamkeit heute. Gemalt wird ja nicht mehr so viel … das heißt, ich höre, man malt unheimlich viel, aber eben andere Dinge und viel mehr aus dem Kopf als am Modell oder der Natur. Ich höre, sie haben so einen kleinen Kasten, der klickt und Bilder in sich einzuschließen vermag. Das ist überaus begeisternd. Aber sicher auch seltsam. Mit jedem Klick muss das Instrument doch schwerer werden, sammelt es doch Bild um Bild und so dürfte es doch kaum noch transportabel sein. Aber wer so einen Kasten hat, der malt natürlich weniger und sieht vielleicht auch nicht mehr, wo das besondere beim Malen liegt. Welche und wie viel Technik, Fertigkeit und Kenntnisse es braucht.

Sie wissen schon, dass Sie sich meine Stimme hier nur einbilden. Ich bin ja schließlich nur die Idee einer Person, die selbst schon viele hundert Jahre vergangen ist. Genauso wie der Maler, der die Person gesucht, dann eingerichtet, skizziert und schließlich gemalt hat. Er und ich wir sind durch das bemalte Holz in ihren Blick gerückt. Ich sehe sie an und sie sehen mich an und sagen vielleicht einmal so etwas Dummes wie: Damals, die Leute im Mittelalter, die wussten ja auch schon einiges … Und ich muss Sie rügen für so viel Arroganz. Wir Menschen wissen stets all das, was vor uns war, in der Gegenwart ist und wir ahnen lebhaft, was auf uns zukommen wird.

Mer Minsche wess stets all das, wat vör uns wor, en dä Jäjewaat ess un mer ahne levhaff, wat op uns zokomme weed. Sagt ooch ming Frau … und – Gelehrtheit hin oder her – vmanchens ess se vill klüger als isch.

Über die Autorin

Porträt der Autorin Nora Gomringer, wie sie vor einer Wand mit Spielzeug und Stofftieren steht.

Nora Gomringer wurde 1980 in Neunkirchen/Saar geboren. Seit 2010 ist die Lyrikerin und Performerin Direktorin des Künstlerhauses Villa Concordia, einer Einrichtung des Freistaates Bayern. Sie erhielt unter anderem den Kulturpreis Deutsche Sprache (2011), den Joachim-Ringelnatz-Preis (2012), die Europa-Medaille des Freistaats Bayern sowie den Ingeborg-Bachmann-Preis (2015).

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