Friedrich Overbecks Bildnis des Malers Johann Carl Eggers
Friedrich Overbeck: Bildnis des Malers Johann Carl Eggers

Ursula Krechel

Im Spiegel
der Freundschaft

Harry Kühn liest Ursula Krechel
Mit freundlicher Unterstützung von Linon. Medien für Museen.
0:00
0:00

Der Maler malt den Malerfreund. Er lässt ihn ganz nah an sich heran. Er
geht ganz nah in ihn hinein. Er spiegelt sich im Blick, und er sucht den Blick
des Freundes, der zwei Jahre älter ist als er. Ja, der Blick des Angeschauten
ist intensiv, hoheitsvoll, ein wenig hochmütig und verhalten zugleich. Und
der Maler Friedrich Overbeck sieht gut, er sieht auch, was in dem Malerfreund
vor sich geht: Wärmeempfinden, Zuneigung, ja, mehr als Zuneigung,
eine Intensität des Schauens und des Zurückschauens, eben das, was zwei
nahe Menschen miteinander verbindet und was üblicherweise keinen Dritten
etwas angeht. Intimität, Freundschaft, Zärtlichkeit und wie die Substantive
alle heißen, die etwas ‚Wirkliches‘ meinen. Schauen und Angeschautwerden
und Innehalten im Bild. Der Maler ist auf höchste Weise dem Malerfreund,
der auch Maler ist, verbunden.

Und er schafft nicht nur mit dem Blick auf den Freund diese übergroße
Intimität. Er wählt auch ein Format für sein Bild, das kein anderes ist als
das eines spätmittelalterlichen Andachtsbildes. Ein Format, wie es in jedem
Schlafzimmer einer Dame Platz hätte, dort wäre es ein Gekreuzigter oder eine verehrungswürdige Heilige mit ihrem ikonographischen Erkennungszeichen.
Es ist also ein winziges Bild, nicht viel größer als die Hand eines
Mannes. Mit anderen Worten, es passt, unfertig oder dreiviertelfertig zum
Anschauen und Übermalen, in jedes Handgepäck, in jeden Mantelsack. Der
Maler hat beschlossen, sein Freund reist mit ihm (im Bild oder: bildlich gesprochen).

Er muss ihn mitnehmen, will ihn bei sich haben. Er sieht seinen
Freund an, und sein Freund schaut so, wie er ihn gemalt hat, zurück. Er
schaut sehr intensiv, er schaut und schaut, nichts lenkt ab von seinem Blick,
der aufrichtig und neugierig erscheint und sich auch nicht ablenken lässt. Ja,
das Sehen ist ein Glück – für den Maler, Overbeck, aber auch für den Angeschauten,
den Porträtierten. Der schaut, als schaue er nicht, als sei das Angeschaut-
und Gemaltwerden etwas ganz Natürliches. Darin beweist sich
der Malerfreund. Aber alle Tiefe, alle Intensität liegt in den Augen. Und er
schaut offenkundig nicht den Betrachter, die Betrachterin an (sind wir im
Museum nicht alle in ein Voyeurtum gebannt, für das wir Eintritt zu zahlen
gewillt sind, uns Zeit nehmen und verharren?), er – nun ist es endlich an
der Zeit, seinen Namen zu nennen, Johann Carl Eggers – sieht den Maler
an, und der Maler lässt uns teilnehmen an dem Blick, der eigentlich ihm
gilt. Oder imaginiert er malend diesen intensiven Blick des Freundes, der
auf ihn gerichtet ist? Die schön gewölbten, kräftigen Augenbrauen, das
schmale harmonische Gesicht, den sinnlich aufgeworfenen Mund, das fleischige
Ohr, das flattrige weiße Hemdentuch, den dunklen Rock, das künstlerhaft,
napoleonisch, widerspenstig in die Stirn gekämmte dunkle Haar.

Noch bartlos erscheint das Gesicht, auf eine selbstbewusste Weise jünglingshaft
ernst. So könnte Heinrich von Kleist ausgesehen haben, wäre er
glücklicher in der Welt gewesen, so ist er aus der Welt gegangen und hat den
Hass auf Napoeleon gegen sich selbst gerichtet. An Marie von Kleist schreibt
er am 1o. November
1811: „… meine Seele ist so wund, daß mir, ich mögte
fast sagen, wen ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe
thut, das mir darauf schim – ert.“ 1 Und zwei Tage später schreibt er an dieselbe
Adressatin: „Auf einen Augenblick war es mein Wille mich mahlen zu
lassen; aber alsdan glaubte ich wieder zuviel Unrecht gegen Dich zu haben,
als daß nur erlaubt sein könte voraus zu sezen, mein Bild würde Dir viel
Freude machen.“ 2 Das Porträt als Gabe: als ein letzter Händedruck zum Abschied
aus der Welt.

Friedrich Overbecks Bildnis des Malers Johann Carl Eggers

Das Bild schafft einen Erinnerungsraum der Freundschaft, ist vorausschauender
Nachlass. ‚The Portrait of an Artist as a Young Man‘, aber ohne
die prononcierte Gewalttätigkeit eines Kunstwollens. Nichts soll ablenken
von diesem Gesicht, kein Hintergrund, keine Malutensilien, keine typische
Handhaltung, wie ein Renaissancemaler sie erfunden oder gefunden hätte.
Den Maler Overbeck interessiert nichts als dieses schöne, junge, selbstbewusste
Gesicht. Es ist ein leichter Glücksschauder in diesem Blick oder in
der Intention von Overbeck, ihn so zu sehen. Dass dies offen bleibt, ist ein
schönes Geheimnis dieses kleinen Freundschaftsbildes. Und deshalb weist es
weit über sich hinaus: in die Geschichte der Individualität, wie die Renaissance
sie ausgebildet hat, in die romantischen Freundschaftsbünde, in das
Grenzgebiet zwischen dem Idealischen und dem Spezifischen.
Ein Andachtsbild: Die Kunstreligion heißt Freundschaft. Friedrich Overbeck,
der Maler des Bildes, ist ein Patriziersohn aus Lübeck, dessen Talent
früh gepflegt worden ist. Auf Tischbeins Rat hin wurde er von seinem Vater
in die Akademie nach Wien geschickt, er bildet sich aber nicht im akademischen
Stil aus, sondern studiert in den Museen: Perugino, Correggio, Tizian,
Raffael. Und dann treten neben die Italiener auch die großen Deutschen:

Cranach d. J., Dürer, Holbein. Es ist ein gewaltiges Programm. Aber wird
man studierend ein genuiner Künstler? Bleibt nicht etwas unbefriedigt?
Wird nicht eine Wildheit gezähmt, allzu sorgsam begradigt? Overbeck ist
im Jahr 18o9 einer der Gründer der Lukasbruderschaft, die ihre Kunst
streng am Mönchischen ausrichtet, Askese, Angst vor Vereinzelung, Reinigung
und Erneuerung der Kunst stehen auf dem Programm. Die Akademie
hatte kriegsbedingt geschlossen. Als sie im Herbst 18o9 wieder öffnet, wird
Overbeck nicht einmal relegiert; er fällt durch die Maschen des Kunstgeflechts.
Im selben Jahr verlassen die Lukasbrüder Wien und siedeln sich in
Rom auf dem Monte Pincio an, im Kloster Sant’Isidoro, eine Mal-Kommune
ähnlich wie später in Worpswede, nur dass die Frauen Italienerinnen sind.
Musen, Marien oder Magdalenen, mit anderen Worten: Projektionsfiguren
einer rituell gebundenen Männlichkeit. Die Kunst: idealistische Träume,
in Mythologien getränkt. Sehnsucht nach einer Gemeinschaft heißt das
Programm, das spirituell und pragmatisch zugleich ist. Ein Männerbund,
der sich durch seine Rigidität selbst gefährdet. Der natürlichen Konkurrenz
zwischen den Künstlern werden heroische Grenzen gesetzt. Overbeck
fühlte den Auftrag, in Bildern zu predigen. Hohlheit, Überhöhung waren
die Folgen. Die Programmatik verstellte das Ästhetische. Wilhelm Heinrich
Wackenroder hatte in den Herzensergießungen eines kunstliebenden
Klosterbruders 3 eine literarische Vorlage zu einem solchen Lebensentwurf
geliefert, Verehrung der Alten Meister, Ehrfurcht und künstlerische Andacht.
Overbeck ist im Jahr 1813 zum katholischen Glauben übergetreten. Was das
in Rom bedeutete, wagen wir nicht zu ermessen. Integration, um es mit einem
heutigen Begriff zu sagen, Nähe zu Auftraggebern, Nazarenertum im
Kreise gleichgesinnter Jünger, über deren Langhaarigkeit, Zottelbärtigkeit
die Zeitgenossen spotten. Eggers kommt erst im Frühjahr 1813 nach Rom.

Nazarenerhaft, wie das Klischee es will, wirkt er keineswegs. Er ist kein Jün-
ger, er ist ein eigenwilliges, attraktives, künstlerisches Individuum. Overbeck
malt den Freund, beide Maler sind noch sehr jung, Rivalität spielt offenkundig
keine Rolle, sonst ginge der Maler nicht so hautnah an sein Objekt
heran, oder sein (potenzielles) Objekt würde ihm die Nähe verweigern.
Overbeck ist 27 Jahre, als er an dem Freundesbild zu malen beginnt. Er
schließt es erst vier Jahre später ab. Oder ist Johann Carl Eggers wirklich
jemand, der Nähe, die Nähe des Betrachtetwerdens zulässt oder einer, der
sie anzieht, aber nicht zurückgibt, der den Maler Overbeck leiden lässt? Als
Eggers nach Italien kommt, da hat Overbeck schon gearbeitet; möglicherweise
kannten sich die beiden Norddeutschen schon früher. Aber wann war
„früher“ vor dem Epochenwechsel der napoleonischen Kriege? Wie fiel dem
einen Maler (Overbeck) der andere Maler (Eggers) auf? Durch Hochmut,
Attitüden, Selbstgewissheit? Mangel an kollektivem Bewusstsein, Verweigerung
der Zottelbärtigkeit? Das wäre ein Problem für den Maler, dessen
Namen jetzt noch gleichwertig, aber doch dann eher höherwertig wird als
der seines Gegenparts, des Malerfreunds, des Bildobjekts. Also knapp und
kurz gesagt: ein Sehnsuchtsbild, ein Bild, das festgehalten, erneuert werden
muss über lange Zeit, bis Eggers mit 33 Jahren kein junger Mann mehr ist.

An dieser Stelle trete ich an mein Bücherregal mit den Enzyklopädien und
frage nicht mehr mich, sondern den entsprechenden Band des Thieme-Becker.
4 Eggers, ein mecklenburgischer Untertan, in Neustrelitz geboren,
begann seine Studien in Dresden. Mit einer Magdalena, die ein Salbgefäß
trägt, erregte er bei der Dresdner Ausstellung 1811 Aufsehen. Der junge
schöne Mann, der eine Sünderin malt. Dann geht er nach Italien, wie alle
Maler, die etwas werden wollen, lernt das Freskieren, studiert die Alten
Meister, kopiert Perugino, und diese Kopie kommt in den Besitz der Humboldts.
1816 lässt er sich in Rom nieder, für vierzehn Jahre. Eine „reiche Tätigkeit“
5 vermeldet das Lexikon und seinen Anschluss an Schnorr von Carolsfeld,
die Nazarener, an Overbeck und Philipp Veith besonders. Im Jahr
1819 verheiratet er sich mit Elisabeth Seitz, ein Jahr später vollendet Overbeck
das Bildnis. Nun ist sein Freund ein gestandener Mann mit eigenem
Hausstand.

Als Goethe nach Italien reiste, da war’s ein Aufbruch, eine Flucht, eine Rettung,
um seine Kunst und seine Lebendigkeit vor der Hofgesellschaft zu
schützen. Das Reisen als eine Lebensform, das Italienische als eine deutsche
Hoffnung, war noch nicht erfunden. Dann reiste Herder, der geistliche
Herr, ärmlich und hochmütig in der Kutsche des Kurfürsten von Mainz, darin
sitzt auch die Geliebte des hohen Herrn. Man liest es förmlich in den
Briefen Herders, wie er sich versteift, als wär’s eine peinliche Mitfahrzentrale,
in die er aus weltfremd protestantischem Ungeschick geraten ist, und
so seufzt er brieflich nach Weimar ins Heimische zurück: Goethe sei ja wie
ein Künstlerbursche nach Rom gereist. Und er! Und er – er traut sich nicht!
Das geistliche Habit drückt und zwickt. Das Schwarz leckt am Straßenschmutz,
und auch die Gedanken werden sündig abgelenkt. Dann reisen
Heerscharen von jungen Künstlern nach Italien, mieten sich ein, trinken
Wein, zündeln und später feuerbachen sie vor sich hin, eine langwierige
Kontinuität der Entgrenzung. Sie reisen fort, aber auch aus enttäuschten,
zerborstenen deutschen Hoffnungen. Die nachnapoleonische Welt ist ein
riesiger Trümmerhaufen. So sind sie mit den Statuen, den Heiligen und den
Andachtsbildern allein. Allein mit sich und ihrer Kunst und ihren Freunden
und deren Kunst. Und alles mischt sich sehnsuchtsvoll. Romantik heißt das
wohl und will überwunden sein durch Intensität und Kunstwillen. Doch es
verstärkt sich, fiebert, schäumt, es ist eine schwarze Krankheit, lauter Schwären,
lauter Melancholie, die Heilung sucht unter der prallen Sonne, im
Schmutz, in der Vergessenheit, im Rücken der Antike, die eine Illusion ist
und trotzdem hilft.

Später trennen sich die Wege der Freunde unweigerlich, Overbeck bleibt
in Rom, wird fromm und frömmelt. Eggers geht in den Norden, geht ins
kühle Berlin, in die Ordnung des preußischen Aufbruchs, dort gibt es zu tun
und nichts zu träumen. Heilige Nüchternheit. Er arbeitet mit Schinkel zusammen
an einer erneuerten Klassizität, das ist ein Programm, und dekoriert
die Vorhalle des Alten Museums. Der schöne Bewunderte wird ein Mitglied
der Preußischen Akademie. Das ist kein Sehnsuchtsziel, es ist schon fast ein
Vorgriff auf den Mythos der Bahnhofshalle. Eine Baustelle, wie man heute
gern zu sagen pflegt. Die nach zwei Jahrhunderten wieder eine Baustelle ist.

Über die Autorin

Porträt der Schriftstellerin Ursula Krechel. Sie trägt eine Tweet Jacke.

Ursula Krechel wurde 1947 in Trier geboren. Sie studierte Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. 1971 promovierte sie mit einer Arbeit über den Theaterkritiker Herbert Ihering an der Universität Köln. Seit 1972 ist sie als freie Schriftstellerin tätig. 1984 war sie Gastprofessorin an der Warwick University, 1989/90 hielt sie Poetik-Vorlesungen in Wien. 1991 war sie writer-in-residence an der Washington-University St. Louis. 1997/98 und 1999 hatte sie eine Gastprofessur in Leipzig inne. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter 2012 den Deutschen Buchpreis und 2020 das Bundesverdienstkreuz am Bande.

Newsletter

Auch während der sanierungsbedingten Schließung informieren wir Sie hier über die Geschehnisse hinter den Kulissen der Kunsthalle.