Detail der Schwangeren von Otto Dix. Die Frau trägt ein blaues Kleid und steht vor einem blauen Hintergrund.
Otto Dix: Die Schwangere

Juli Zeh

Tragen

Doris Wolters liest Juli Zeh
Mit freundlicher Unterstützung von Linon. Medien für Museen.
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Die Ärztin kann mich auf den ersten Blick nicht leiden. Schon wie ich in die Praxis komme und zu ihr sage, guten Tag, ich bin trächtig, da antwortet sie nicht herzlichen Glückwunsch oder schön oder aha, sondern: Wollen Sie es behalten? Und wie ich sie angucke und frage, was das heißen soll, fügt sie hinzu: In Ihrem Alter? Die hätte die kleine Quappe am liebsten gleich weggemacht. Vielleicht hat sie selbst keins und ist Frauenärztin geworden, um anderen den Spaß zu verderben. Wie ich sage, und ob ich es behalte, schaut sie mich an und notiert mürrisch in ihrer Akte. Klärt mich auf über die Pflichtuntersuchungen. Das Bundesgesundheitsministerium will, dass ich regelmäßig vorbeikomme. Ich frage, wieso sich das Bundesgesundheitsministerium plötzlich für mich interessiert. Wo ich neue Zähne gebraucht hätte, wollte der Zahnarzt wissen, ob ich privat versichert bin, und wie ich gelacht habe, hat er mich nach Hause geschickt. Da war kein Bundesgesundheitsministerium, das sich erkundigt hätte, ob ich noch mal vorbeikommen will. Aber jetzt, wo ich einen künftigen Steuerzahler in mir trage, drückt mir das Ministerium alle paar Tage das Stethoskop an die Bauchdecke oder was? – Die Ärztin schaut mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank.

Wie ich also regelmäßig zu den Untersuchungen gehe, sagt die Ärztin, dass wir genau hinschauen müssen, von meinem Alter her. Sie schaut genau hin und wird immer bedenklicher, von einer Untersuchung zur anderen, aber auch besser gelaunt. Und dann geht noch Blut ins Labor, und wie der Bericht kommt, sagt die Ärztin, dass die kleine Quappe wahrscheinlich krank ist. Fröhlich schaut sie aus, als sie hinzufügt, dass über neunzig Prozent der Eltern es wegmachen lassen in so einem Fall. Sie lächelt richtig, wahrscheinlich freut sie sich schon aufs Ausschaben. Ganz sicher können wir uns noch nicht sein, weshalb eine weitere Untersuchung folgen soll. Mit einer Nadel in den Bauch stechen und Fruchtwasser absaugen. Nicht selten hat sich die Sache dann gleich von selbst erledigt. Erst in drei Monaten ist diese Untersuchung möglich. Bis dahin wünscht sie mir alles Gute und viel Spaß beim Tragen.

Drei Monate. Das ist kein Bauch, was ich da trage, das ist eine Todeszelle. Ich sage es keinem. Den Eltern nicht und nicht dem Mann. Ich kann nicht. Als würde ich die Wörter nicht kennen, die man braucht, um auszudrücken, was die kleine Quappe wahrscheinlich hat. Jedes Mal, wenn ich es versuche, fehlt der Anfang vom Satz. Die Leere in den Gesichtern, und dann das heraufdämmernde Entsetzen. Als würde das alles erst Wirklichkeit, wenn ich es ausspreche. Ich schweige. So kann ich die kleine Quappe wegmachen lassen und dem Mann sagen, es wäre ein Unfall gewesen. Dann wird er trauern und nicht Mörder sein wie ich. Oder wenn ich es nicht fertig bringe und die Quappe leben lasse, kann ich später sagen, ich hätte von nichts gewusst. Dann ist es Gottes Wille oder Schicksal, jedenfalls nicht meine Schuld, und ich werde niemals hören müssen, auch nicht in Momenten tiefster Verzweiflung, wie der Mann hin und her läuft und schreit, dass ich es doch gewesen bin, die das kranke Ding unbedingt zur Welt bringen wollte. Ich schweige, und die Angst mästet sich. Wird schwerer als die Quappe, schwerer als der Bauch.

Als der Mann mit der Nadel in meinen Bauch sticht und sagt, dass erst die Nadel Gewissheit bringen wird, habe ich das Gefühl, er spricht Chinesisch mit mir. Noch zwei Wochen warten, bis die Ergebnisse kommen. Die Tage verwandeln sich in Zement, der langsam aushärtet. Ich stecke darin fest. Nichts bewegt sich, nicht einmal die Zeit. Die Angst ist größer als der Bauch, größer als ich, größer als das Haus. Die Angst ist alles. Dann klingelt das Telefon. Ich soll ich in der Praxis der Ärztin erscheinen. Ich verstehe nichts. Man erklärt: Der Mann mit der Nadel hat seinen Bericht an die Ärztin geschickt.

Abbildung des Portrait der Schwangeren von Otto Dix. Die Frau trägt ein blaues Kleid und steht vor einem blauen Hintergrund.
Otto Dix: Die Schwangere

Die Ärztin macht eine Leichenbittermiene. Was in meinem Herzen noch lebt, gefriert zu Eis. Dabei ist ein böses Gesicht bei dieser Ärztin das beste Zeichen. Sie ärgert sich, dass sie nicht recht hatte. Sie sagt: Negativ. In mir sind nur noch Echos. Sie fügt hinzu: Alles in Ordnung bei Ihnen. Kommen sie in drei Wochen zur nächsten Pflichtuntersuchung. Ein Junge, ruft sie mir noch hinterher.

Ich stehe auf der Straße. Ganz langsam beginnen die Autos zu fahren. Ganz zaghaft beginnt die Sonne zu scheinen. Ganz vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen. In mir lebt die kleine Quappe. Ein Quapperich. Ich hatte mir ein Mädchen gewünscht, und das ist jetzt so dermaßen egal, dass ich lachen muss. Ich lege die Hände auf den Bauch und lache, und so betrete ich das Café. Ich muss feiern, ganz allein. Nur mit dem Quapperich. Wir wollen darauf anstoßen, dass er am Leben ist. Im Gang zu den Toiletten kaufe ich eine Packung Zigaretten, nehme eine heraus und schmeiße den Rest weg. An der Bar bestelle ich ein Glas Sekt. Der Kellner schaut mich komisch an, weil erst elf Uhr vormittags ist. Ich lächele, weil er keine Ahnung hat. Mit Sekt und Zigarette gehe ich in den verglasten Hinterraum. Niemand sonst ist dort. Ich zünde die Zigarette an und stupse das Glas gegen meinen Bauch. Auf dich, Quapperich, sage ich. Dann nehme ich einen Schluck und einen Zug und lächele immer weiter. Obwohl meine Augen geschlossen sind, läuft eine Träne heraus.

An der Bar spricht der Kellner mit einem Gast. Sie sehen durch die Glastür zu mir herüber. Dann kommt der Gast auf mich zu. Er öffnet die Tür und sagt, Entschuldigung, Sie sollten aber nicht rauchen. Erschrocken sehe ich mich um, da ist der Aschenbecher auf dem Stehtisch und das Zigarettenzeichen an der Tür. Ich sage: Hier ist doch der Raucherraum. Der Gast zeigt auf meinen Bauch und sagt, dass ich meinem Kind schade. Ich muss so sehr lachen, dass mir die Tränen jetzt richtig über das Gesicht laufe. Der da drin ist kerngesund, rufe ich, glauben Sie mir, das habe ich schriftlich. Der Gast nimmt meinen Arm. Machen Sie die Zigarette aus. Ich sage: Fassen Sie mich nicht an. Die Tür geht auf, da kommen eine Frau und der Kellner. Ich sage zum Kellner: Der Herr belästigt mich. Die Frau zeigt auf mein Glas und ruft: Ist das Alkohol? Der Gast hält immer noch meinen Arm. Ich reiße mich los, trinke einen Schluck und nehme einen Zug und sage: Lasst mich in Ruhe, ihr kapiert überhaupt nichts. Jetzt kommt die Frau auf mich zu und streckt die Hand aus, sie will meinen Bauch berühren. Denken Sie doch an das Kind! Ich schlage ihr die Hand weg. Mir reicht’s jetzt, schreie ich. Das ist mein Körper. Der gehört nicht euch und nicht dem Ministerium. Ich versuche, an den Leuten vorbeizukommen. Da stehen jetzt noch mehr vor der Tür. Die Zigarette und den Sekt habe ich immer noch in den Händen. Der Kellner umklammert meine Schultern, der Gast will mir die Zigarette aus den Fingern winden. Ich schütte ihm den Sekt ins Gesicht. Ich schreie. Mein Körper! Verpisst euch! Die Zigarette zerbricht. Der Gast verbrennt sich, reißt die Hand nach oben. Sein Ellenbogen trifft den Kellner im Gesicht. Wir straucheln. Ich höre einen Barhocker umfallen. Ich stürze. Unter mir der Barhocker. Ich stürze mit dem Bauch voran. Ich denke: Nein. Dann zerreißt mich der Schmerz.

Ich liege am Boden und kann nicht entscheiden, ob da warme Flüssigkeit an meinen Beinen ist. Ich höre aufgeregte Stimmen und Schritte und wie die Glastür immer wieder auf und zu geht. Ich denke: Lass es nicht passiert sein. Mach, dass es nicht passiert ist. Und wenn doch, nimm mich auch mit. Bitte.

Über die Autorin

Autorin Juli Zeh, die vor einer braunen Beton Wand steht.

Geboren wurde Juli Zeh 1974 in Bonn. Sie studierte Rechtswissenschaften in Passau, Krakau, New York und Leipzig und absolvierte ein Praktikum bei der UNO in New York. Später studierte sie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2010 wurde Juli Zeh an der Universität Saarbrücken zum Dr. jur. promoviert.

Ihr Debüt als Schriftstellerin gab sie 2001 mit Adler und Engel. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter den Deutschen Buchpreis, die Brüder-Grimm-Professur an der Universität Kassel, das Bundesverdienstkreuz und den Heinrich-Böll-Preis. Zuletzt erschienen u.a. Das Turbo-Ich – Der Mensch im Kommunikationszeitalter. (2018) und der Roman Neujahr (2018).

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