
Sous la grande lampe à Saint-Jacut
Beschreibung
Édouard Vuillard zählt zu den bedeutendsten Malern des »Intimisme«, einer Stilrichtung um 1900, die in gedämpften Farben alltägliches häusliches Leben als vertraulich wirkende Interieurs fasste. Dieses Gemälde, zu dem die Kunsthalle eine Vorzeichnung besitzt (Inv. 1974-21), ist ein hervorragendes Beispiel für Vuillards Beobachtung des privaten Interieurs, das ihn ein Leben lang fesselte und das er in früheren Werkphasen hochgradig ästhetisiert hatte.
Das Gemälde zeigt eine nachmittägliche Tischgesellschaft in der Villa des Écluses in Saint-Jacut. Das Domizil hatten Jos Hessel und seine Frau Lucy für die Sommerfrische in der Bretagne gemietet. Vuillard und seinen Kunsthändler verband eine enge Freundschaft, und so war der Künstler häufig bei Hessels zu Gast. Der Gastgeber ist hier rechts am Tisch dargestellt, der Schriftsteller André Picard links außen und in der Mitte die Filmschauspielerin Marthe Mellot, dem unsichtbaren Beobachter Vuillard gegenüber. Doch in dieser Darstellung ist der eigentliche Star am Tisch eine einfache Petroleumleuchte, die alles überragt und sogar vom Bildrand beschnitten wird. Mit der Wahl des banalen und zudem altmodischen Gegenstands, von dem kein Licht ausgeht, und mit der provokant niedrigen Perspektive verbindet sich ein Blick auf die Welt, der in Vuillards Schaffen eher neu war – schnörkellos, das Unästhetische einbeziehend.
Dieser Blick von Höhe der Tischkante suggeriert ein hohes Maß an Authentizität. Die extreme Untersicht bewirkt, dass sich der wenig attraktive Spannrahmen im Innern des Textilschirms ins Blickfeld drängt. Die Darstellung der Welt mit Tendenz zur Untersicht wurde durch eine technologische Neuerung begünstigt: Seit 1888 war die erste tragbare Kleinbildkamera von Kodak mit einem Rollfilm auf dem Markt. Vuillard besaß eine solche Kamera und setzte sie oft ein, um beiläufig Bilder als Gedächtnisstützen aufzunehmen. Das Sucherfenster befand sich auf der Oberseite der Kamera, so dass man sie auch im Sitzen etwa auf Bauchhöhe halten musste. Vuillard übersetzte diesen veränderten Blick auf die Welt in verschiedenen gemalten Fassungen der Tischgesellschaft, wobei sich das Karlsruher Gemälde als die radikalste Bildfindung auszeichnet.
Von Mitteln und Mittlern
0:00
0:00
Medien im Austausch
Würden Sie, wenn Sie eine kleine Runde von Freund*innen am Tisch fotografieren, von unten in eine schnöde Allerweltslampe hineinknipsen, die dann alles überragt? Vermutlich nicht. Wahrscheinlich würden Sie einen besseren Standpunkt, einen anderen Bildausschnitt wählen. Oder schlicht die Lampe etwas aus dem Vordergrund schieben. Aber warum hat der Maler das hier nicht getan?
Wahrnehmung und Umsetzung
Vuillard ließ seine Modelle nie posieren, er überraschte sie in ihrem Zuhause, in ihrer gewohnten Umgebung. [...] der Maler sagte zu ihnen: ‚Nicht mehr bewegen, bleibt, wie ihr seid!’. Dann fertigte er eine Skizze. Und in dieser ersten Vorstellung war schon das gesamte Gemälde wiederzufinden.
Antoine Salomon, ein Verwandter von Edouard Vuillard und späterer Autor seines Werkverzeichnisses, beschreibt hier das spannungsreiche Gefüge von Wahrnehmung und künstlerischer Anverwandlung eines Motivs.
Die Lampe als Protagonist
Zur Sammlung der Kunsthalle gehört auch die Zeichnung, die diesem Gemälde zugrunde liegt – jene erste Vorstellung also, von der Salomon sprach. Vuillard hielt darin eine unaufgeregte Situation fest: Mitglieder der befreundeten Familie Hessel sitzen gemeinsam an einem Tisch in ihrer Sommervilla in Saint-Jacut. Schon bei der Zeichnung mit ihren schnellen, fast suchend springenden Bleistift- und Tuschelinien, bildet die Lampe in Untersicht das Zentrum der Komposition. Um sie scharen sich die Personen. Allerdings, ohne dass ihr Schein das Zimmer atmosphärisch in weiches Licht legen oder dass ihr Kegel die Gruppe zusammenfassen würde, wie es die malerische Tradition verlangt hätte. Viel eher dominiert sie fast aufdringlich das Gefüge und grenzt die Zimmerbereiche und Personen gegeneinander ab.
Noch deutlicher wird die Dominanz des Ausstattungsgegenstands im Vergleich des Gemäldes zu zwei weiteren Fassungen der Lampe von Saint-Jacut, die im ruhigen Querformat angelegt sind. Indem Vuillard beim Karlsruher Bild ein Hochformat wählte und also die Länge der Lampe noch zusätzlich betonte, radikalisierte er den Bildgedanken. Warum?
Ein anderer Blickwinkel
Entscheidend dürfte Vuillards Beschäftigung mit einem anderen Medium gewesen sein – er war nicht nur Maler, sondern auch leidenschaftlicher Hobbyfotograf. Kaum hatte die Firma Eastman Kodak eine einfache Taschenkamera mit Rollfilm entwickelt, hatte auch Vuillard schon ein Exemplar erstanden. Den kleinen Kasten der Pocket Kodak hielt man nicht auf Augenhöhe, sondern etwa vor dem Bauch, und blickte von oben hinein. So wurde das Motiv in Untersicht erfasst.
Fotografischer Blick und malerisches Gespür
Fragen von Bildausschnitt und Perspektive stellten sich bei dieser Art der analogen Fotografie also anders als in der Malerei, bei welcher Standorte freier gewählt, die Wirklichkeit im Malprozess stärker zurechtgerückt werden konnte. Möglichkeiten, die Vuillard bei diesem Gemälde bewusst nicht nutzte. Die in die Malerei übertragene Ehrlichkeit des Gesehenen macht das Werk zu einem außergewöhnlichen mediengeschichtlichen Zeugnis. Auch, weil Vuillard den fotografischen Blick mit dem materiell-technischen Gespür des Malers kombinierte: Mit sogenannten Leimfarben erzeugte er matte, kalkige Flächen, die fleckig neben- und übereinanderstehen und dem Bild seine besondere Wirkung verleihen.
Noch deutlicher wird die Dominanz des Ausstattungsgegenstands im Vergleich des Gemäldes zu zwei weiteren Fassungen der Lampe von Saint-Jacut, die im ruhigen Querformat angelegt sind. Indem Vuillard beim Karlsruher Bild ein Hochformat wählte und also die Länge der Lampe noch zusätzlich betonte, radikalisierte er den Bildgedanken. Warum?
Ein anderer Blickwinkel
Entscheidend dürfte Vuillards Beschäftigung mit einem anderen Medium gewesen sein – er war nicht nur Maler, sondern auch leidenschaftlicher Hobbyfotograf. Kaum hatte die Firma Eastman Kodak eine einfache Taschenkamera mit Rollfilm entwickelt, hatte auch Vuillard schon ein Exemplar erstanden. Den kleinen Kasten der Pocket Kodak hielt man nicht auf Augenhöhe, sondern etwa vor dem Bauch, und blickte von oben hinein. So wurde das Motiv in Untersicht erfasst.
Fotografischer Blick und malerisches Gespür
Fragen von Bildausschnitt und Perspektive stellten sich bei dieser Art der analogen Fotografie also anders als in der Malerei, bei welcher Standorte freier gewählt, die Wirklichkeit im Malprozess stärker zurechtgerückt werden konnte. Möglichkeiten, die Vuillard bei diesem Gemälde bewusst nicht nutzte. Die in die Malerei übertragene Ehrlichkeit des Gesehenen macht das Werk zu einem außergewöhnlichen mediengeschichtlichen Zeugnis. Auch, weil Vuillard den fotografischen Blick mit dem materiell-technischen Gespür des Malers kombinierte: Mit sogenannten Leimfarben erzeugte er matte, kalkige Flächen, die fleckig neben- und übereinanderstehen und dem Bild seine besondere Wirkung verleihen.
Weitere digitale Angebote zu Édouard Vuillards „Sous la grande lampe à Saint-Jacut“
Touren zu diesem Werk

Kunsthalle x Jakob Schwerdtfeger

Von Mitteln und Mittlern
Daten und Fakten
Titel | Sous la grande lampe à Saint-Jacut |
---|---|
Künstler*in | Édouard Vuillard |
Entstehungszeit | 1909 |
Inventarnummer | FK 81 |
Maße Bildträger | H 78,5 cm B 60,0 cm |
Material | Papier auf Leinwand |
Technik | Tempera |
Genre | Genre |
Gattung | Gemälde |
Abteilung | Neue Malerei (nach 1800) |
-
Kunsthalle@ZKM. Ein neuer Blick auf die Sammlung
Highlight-Präsentation ZKM ab 29.04.2023
-
1968: Vuillard. Intérieurs
Roger-Marx, Claude
-
2003: Vuillard
Salomon, Antoine ; Cogeval, Guy
The inexhaustible glance; critical catalogue of paintings and pastels