Glauben machen.
Die Wahrheit des Sichtbaren
Obwohl fotografische Bilder seit jeher Authentizität und Evidenz zu konnotieren scheinen, ist unser Blick auf die Wirklichkeit und Wahrheit fotografischer Bilder massiv ins Wanken geraten.
Nicht nur theoretische Diskurse belegen, dass die Herstellung und Kritik von Wirklichkeitseffekten und Wahrheitstechnologien längst Allgemeingut sind.
Auch die Vielzahl an Manipulationsskandalen, die die aktuelle Medienberichterstattung begleiten, zeugt eindrücklich von der Infragestellung fotografischer Wahrheiten. Was ist der Grund für den Zweifel an der Beziehung des Fotografischen zum Realen, dessen Verheißungen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte und Theoriegeschichte der Fotografie ziehen?
Nahezu zeitgleich mit der Erfindung der Fotografie gab es erste Versuche, das Spezifische des neuen Mediums zu beschreiben. Während Fox Talbot noch die Metapher des Zeichenstifts [2] bemühte, hob er gleichzeitig den Automatismus der technischen Bildentstehung hervor, als er schrieb: „Die Hand der Natur hat sie abgedrückt.“[3]
Und weiter: „[D]ie Tafeln des vorliegenden Werks sind allein durch die Einwirkungen des Lichtes hervorgerufen worden, ohne irgendeine Mithilfe von Künstlerhand.“[4] Der Vergleich mit anderen Darstellungsformen und die Abgrenzung zu diesen, speziell zu den Gattungen der Zeichnung und der Malerei, bestimmen die Mehrzahl der Diskurse, die die Besonderheiten des fotografischen Mediums zu beschreiben suchen.
Grundlage einer Vielzahl der Argumentationen ist dabei der technische Entstehungsprozess fotografischer Bilder. Der Automatismus der Kamera und die dadurch scheinbar entsubjektivierte Bildentstehung vermögen die Existenz des Dargestellten in besonderer Weise zu bestätigen. Zeichentheoretisch gesprochen, resultiert der spezifisch fotografische Wirklichkeitsbezug aus der physikalisch-chemischen Kontiguität zwischen fotografischen Zeichen und ihren Referenten.
Denn „[e]s kann keine Fotografie ohne einen Referenten geben und die spezifische mediale Wiedergabe des Referenten konstituiert das Fotografische“[5]. Für die Fotografie wird das physikalisch-chemische Verfahren so zum Garanten einer scheinbar unmittelbaren, von Menschenhänden unbeeinflussten Bildwerdung von etwas, das der Darstellung vorauszugehen scheint.
In den Vorstellungen vom spezifischen medialen Wirklichkeitsverhältnis der Fotografie artikuliert sich die Sehnsucht nach einer Kommunikation jenseits der Zeichen, die nicht nur die Faktizität des Dargestellten im Sinne eines barthschen ‚Es-ist-so-gewesen’ [6] bestätigt, sondern auch die Wahrheit des Sichtbaren zu garantieren scheint.
Doch trotz aller über den Entstehungsprozess verbürgten Bezüge der Fotografie zum Realen haben die Formen fotografischer Wirklichkeitsdeutung ebenso wie die Vorstellungen, was als Wirklichkeit und Wahrheit gelten könne, historisch durchaus variiert. Dabei gehen gerade die Diskurse der fotografischen Indexikalität und Referenzialität weit über ein naives Wirklichkeitsversprechen hinaus. Denn hiernach verfügen fotografische Bilder neben der für sie zentralen Indexikalität sehr wohl auch über ikonischen und symbolischen Zeichencharakter und führen so die Idee einer Unmittelbarkeit der Wirklichkeitsabbildung mit der Vorstellung von der Inszeniertheit des Mediums zu einer Synthese zusammen.
In diesem Sinne wird die Fotografie als eine Inszenierung verstanden, in der das dokumentarische Moment als indexikalische Spur im dreifachen hegelschen Sinne aufgehoben ist, d. h., es wird negiert, bewahrt und auf eine höhere Stufe gehoben.
Als indexikalische Zeichen stellen Fotografien daher permanent Wirklichkeitsbezüge her, die ‚unverfälschte‘ Wirklichkeits- und Wahrheitsversprechen evozieren. Als codierte Botschaften geben sie sich hingegen als Wirklichkeitsdeutungen und -konstruktionen zu erkennen. Insofern werden Wirklichkeitseffekte über fotografische Bilder zwar hergestellt, aber gleichzeitig immer wieder irritiert. Universelle Wahrheiten sind über fotografische Bilder als Resultat ihrer Indexikalität keinesfalls zu erreichen, dennoch sind sie permanent in Verfahren der Wahrheitsproduktion und verschiedenste Technologien der Wahrheit involviert.
Fotografien changieren beständig zwischen „believability and uncertainty“[7]. Oder wie David Levi Strauss es formuliert hat: „[…] the truth is that every photograph or digital image is manipulated, aesthetically and politically, when it is made and when it is distributed.“[8]
Daher ist die Frage vieler aktueller fotografischer Praxiskontexte, wie eine Differenz zwischen einer zulässigen und einer unzulässigen Form der Repräsentation von Wirklichkeit festzulegen sei, nie zufriedenstellend zu beantworten. Meist wird auf die Analyse der Raw Daten und die Arbeit sogenannter Bildforensiker zurückgegriffen. Aber Manipulation ist nicht nur eine Sache der Postproduktion, es gibt Manipulation vor der Kamera über Staging, Ausschnittswahl, Filmwahl, Capturing, Kontexteinbindung und vieles mehr; jede Phase des Bildentstehungsprozesses birgt die Möglichkeit der Manipulation.
Wahrheit ist keine Frage der Technik, keine Frage von Algorithmen. Letztlich nährt der Glaube an eine perfekte technische Überprüfung und eine daraus abzuleitende allgemein gültige Regel, wann Manipulation beginnen, sogar die Fiktion, verbindliche Wahrheit wäre über Fotografien zu erreichen. Aus diesem Grund gibt es immer wieder neue Manipulationsskandale. Die Frage nach dem ‚echten Bild‘ muss permanent ausgehandelt werden.
Wenn die Schlacht um die Wahrheit mit den heutigen technischen Möglichkeiten der Bildbearbeitung ganz sicher nicht zu gewinnen ist, so wird doch offenkundig, dass sich die Frage der Wahrheit noch nie allein auf das Fundament eines medial verbürgten Wirklichkeitsversprechens gründen konnte. Als Zeichen, mit indexikalischem, ikonischem und symbolischem Charakter, erzählen fotografische Bilder von vielschichtigen, triangulierten Wahrheiten, die sich nur über ein komplexes System unterschiedlichster Herangehensweisen, Perspektivwechsel und Kontextualisierungen herstellen lassen. Insofern müssen „wir entdecken […], daß dort, wo wir auf festem und sicherem Boden zu stehen glaubten, in Wahrheit alles unsicher und im Schwanken begriffen ist“[9].
Statements zu dieser Diskussion von Personen, die mit dem Medium Fotografie u.a. auf Instagram arbeiten, finden sich unter dem Hashtag #kunsthallextruth:
Anke von Heyl / kulturtussi
Cara / theothercara
Diana / doandlive
Jaqueline Scheiber / minusgold
Julia Kleiner / isitfiction
Luise / luiseliebt
Marie Nasemann / fairknallt
musermeku
Rainer Berghausen
Literaturnachweise
[1] Der vorliegende Text geht in Teilen zurück auf die Veröffentlichung Karen Fromm: ‚Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen‘, in: Karen Fromm, Sophia Greiff, Anna Stemmler (Hg.): Images in Conflict / Bilder im Konflikt, Weimar 2018, S. 140–150.
[2] William Henry Fox Talbot: ‚Der Zeichenstift der Natur‘, in: Wilfried Wiegand (Hg.): Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst, Frankfurt a. M. 1981, S. 45–89.
[3] Ebd., S. 45.
[4] Ebd., S. 89.
[5] Herta Wolf: ‚Vorwort‘, in: Philippe Dubois: Der fotografische Akt, 1998, S. 7–14, hier S. 13.
[6] Vgl. ebd., S. 87.
[7] Paul Lowe: ‚Triangulating Truths: Photojournalism in the Connected Age‘, in: Karen Fromm, Sophia Greiff, Anna Stemmler (Hg.): Images in Conflict / Bilder im Konflikt, Weimar 2018, S. 208–226, hier S. 211.
[8] David Levi Strauss: ‚Doctored Photos – The Art of the Altered Image‘, in: TIME LightBox, 13. Juni 2011, http://time.com/3778075/doctored-photos-the-art-of-the-altered-image/ (letzter Zugriff am 19. August 2018).
[9] Karl Popper: ‚Die Logik der Sozialwissenschaften‘, in: Theodor W. Adorno/Jürgen Habermas/Karl Popper: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied/Berlin 1969, S. 103–123, hier S. 103.